Wenn Kochen zur Erinnerungspraxis wird

Wenn Kochen zur Erinnerungspraxis wird

Die Künstlerin Thi My Lien Nguyen schafft Räume, in denen Menschen sich begegnen. Oft spielt dabei das gemeinsame Kochen und Essen eine zentrale Rolle. Im Porträt erzählt sie, warum das Schneiden von Gurken mehr ist als nur eine Tätigkeit in der Küche.

Eine Besucherin stellt einen Hocker beiseite, jemand anderes zieht einen Stoff über den Tisch, zwei Menschen beginnen zu sprechen. In Thi My Lien Nguyens Ausstellung «Shaping Fluidity» im Kunstmuseum St. Gallen ist nichts fix: modulare Möbel, handgefertigte Keramiken und Vorhänge dürfen berührt, verschoben und kombiniert werden. Ein Stuhl kann auch ein Tisch sein – und ein Tisch auch ein Hocker. My Lien rüttelt gerne an musealen Gewohnheiten: an Hierarchien zwischen Kunstwerk und Publikum, an stillen Regeln, was berührt werden darf und was nicht. So bringt sie in Shaping Fluidity den «White Cube» – so nennt man die Ausstellungspraktik, Kunst in weissen Räumen zu präsentieren – in Bewegung. Sie verwandelt ihn in ein Pop-up-Café, das Menschen ins Gespräch bringt.

My Liens Arbeit behandelt konkret Diaspora, Zugehörigkeit und Zugänglichkeit. Aber auch ihre Position als nicht weisse Frau in einer mehrheitlich weissen, noch immer überwiegend männlichen Kunstwelt reflektiert sie kritisch in ihren Installationen und Aktionen. Die Absolventin des Bachelors Camera Arts der Hochschule Luzern erlebt immer wieder, wie gross der Unterschied zwischen Bekenntnissen und gelebter Offenheit sein kann: «Museen behaupten oft, offen und divers arbeiten zu wollen. Wenn es unbequem wird, zeigt sich schnell, ob sie wirklich so sind.» Denn hinter den Kulissen bedeutet Inklusion oft zusätzliche Arbeit: sensibilisieren, Begrifflichkeiten aushandeln, Moderation und Konfliktklärung übernehmen, Grenzen benennen, Vorfälle aufarbeiten, Barrieren abbauen (von Sprache bis Raum), Checklisten für Zugänglichkeit schreiben, Alltagsabläufe anpassen – und dabei die Care-Arbeit mitdenken, die selten honoriert wird. «Ich werde als Künstlerin beauftragt, wie jede andere Person auch, etwas zu leisten – und dafür werde ich bezahlt», sagt die 30-Jährige. «Darüber hinaus gibt es bei mir aber den Unterschied, dass ich aufgrund meiner Arbeit bestimmte Themen mitbringe.» Das bedeutet: My Lien bringt nicht nur ihre Kunstwerke, sondern oft auch Gespräche, Erklärungen und Sensibilisierung an einen Ausstellungsort. Sie gibt kurze Einführungen zu Kontext und Begriffen, moderiert Gesprächsrunden mit Besucher*innen, klärt Erwartungen mit Teams, verhandelt Sprache (z. B. wie über Herkunft oder Identität gesprochen wird), benennt Grenzen, arbeitet Vorfälle auf und senkt Barrieren – von Verständlichkeit der Texte bis zur Zugänglichkeit von Raum und Setting. «Das kostet mich Energie.» Diese zusätzliche, meist unbezahlte Arbeit bleibt im Hintergrund, obwohl sie entscheidend ist, damit überhaupt ein offener Raum für Begegnung, Teilhabe und geteiltes Wissen entstehen kann. In letzter Zeit zieht es sie deshalb vermehrt zu niederschwelligen Kulturorten und regionalen Kontexten in der Schweiz, wo kurze Wege, direkte Absprachen und weniger starre Abläufe bei Programm- und Kommunikationsprozessen, Zuständigkeiten oder Hausregeln mehr Spielraum lassen, Formate gemeinsam zu justieren.

Auf einer anderen Ebene zeigt sich Austausch in My Liens Food-Praxis. Sie begann während ihres Studiums vor etwa zehn Jahren, die vietnamesischen Rezepte ihrer Familie zu sammeln – ein Aufarbeiten von Wissen über Geschmack, Zubereitung und Geschichten. Daraus entstand «Mili’s Supperclub»: Treffen, die zunächst im Freundeskreis stattfanden, sich dann Schritt für Schritt öffneten und schliesslich allen zugänglich wurden. Heute ist das gemeinsame Essen stärker in ihre künstlerische Praxis eingebettet. In performativen, partizipativen Settings nutzt My Lien das gemeinsame Kochen und Teilen von Speisen als Form des Austauschs. Über Geschirr, Zutaten und Gesten vermittelt sie soziale Bedeutungen, Erinnerungen und Kontexte. «Selbst das Schneiden einer Gurke kann zu einer Übung in Aufmerksamkeit werden», sagt My Lien. «Was ich schneide, ist Gemüse; wie ich schneide, ist Geschichte. Meine Art, eine Gurke zu schneiden, ist also auch eine Erinnerungspraxis an Menschen, Orte und Küchen.» Mittlerweile führt sie den Supperclub nicht mehr regelmässig durch; ihre Food-Praxis entwickelt sich jedoch laufend weiter in ihrer künstlerischen Arbeit.

Kochen macht Herkunft sichtbar; Reisen prüft sie; Rückkehr hält sie zusammen. Ihr Verständnis für kulturelle Perspektiven und Formen des Zusammenlebens hat My Lien auf Reisen und in Artist-Residenzen in Europa und Asien erweitert. Immer wieder bricht sie in die Fremde auf und kehrt nach Winterthur zurück, wo die in Amriswil aufgewachsene seit 2019 lebt und ihr Atelier hat. Mit Rückkehr setzte sich My Lien auch in ihrer Ausstellung «Gestures of Return» auseinander, welche bis letzten November im Kunstmuseum Thurgau zu sehen war. Gezeigt wurden Foto- und Videoarbeiten, die in der Schweiz, in Vietnam und Laos entstanden sind. «Rückkehr ist für mich keine lineare Bewegung, sie geschieht nicht einmalig und ist dann abgeschlossen», sagt My Lien. «Ich kehre nicht nur in die Vergangenheit zurück, sondern auch in meine Gegenwart und Zukunft.»

Konkret wurde diese Auseinandersetzung für sie 2023. Damals begann sie, Rückkehr als Methode zu erproben, besuchte Orte der Kindheit erneut, rekonstruierte Familienrezepte, führte Gespräche mit Verwandten, zeichnete Stimmen und Geräusche auf, legte alte Wege nochmals zurück und hielt all das in Bild- und Videonotizen fest. «Meine Arbeit ist kein Journalismus mit einer Chronologie über Jahrzehnte, sondern ein Einblick in ein Gefühl, das sich in diesen Rückkehrbewegungen bildet: manchmal Nostalgie, manchmal Melancholie.»

Was für sie als Erfolg gilt, ist unspektakulär und doch gross. Sie wünscht sich, dass ihre Arbeit etwas in Bewegung bringt – vielleicht eine neue Perspektive, vielleicht einfach ein Moment des Innehaltens. «Es reicht, wenn ich eine einzige Person berühren kann», sagt My Lien. Oft beginnt das mit etwas Kleinem: einem Gespräch, einem Teller Suppe, dem Hocker, der zum Tisch wird. Dort, wo Menschen sich öffnen und zuhören, kann etwas entstehen – ein Raum, der bleibt, auch wenn das Essen längst vorbei ist.

Tanja Vetsch studiert an der ZHAW. Sie verliert vieles: den Faden, ihre Schlüssel das Zeitgefühl. Eins sammelt sie aber zuverlässig: Geschichten.
Lea Reutimann arbeitet als Fotografin und liebt es, zwischen Brotjobs gemeinsam mit Kunstschaffenden fotografische Projekte zu realisieren.

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