Ein Rockliebhaber als Jazzpianist

Ein Rockliebhaber als Jazzpianist

Hauptberuflich ist Lucca Fries Pianist und kam als solcher schon um die halbe Welt. Im Herzen allerdings ist er Schlagzeuger. In Winterthur organisierte er zusammen mit anderen die experimentelle Konzertreihe Salle Bolivar, in der Musiker*innen verschiedenster stilistischer Herkunft zusammen improvisieren. Zurzeit gibt er seiner Liebe für Alternative Rock mit dem Projekt Fri3ser ein Ventil, in dem er Jazz und Rock kombiniert.

Wenn dir Lucca Fries beim Kaffee gegenübersitzt, stehen die Chancen nicht schlecht, dass er dir auf den Tisch trommelnd eine Schlagzeugtechnik präsentiert. Wenn du ihn nach seiner Vergangenheit fragst, erzählt er dir vielleicht von seinem Vater, der ein Bach-begeisterter Klavierlehrer war, von seiner Mutter, die er als «lebende Musik» bezeichnet, vom Gaswerk, in dem er den Grossteil seiner Teenie-Jahre verbrachte oder von der Winterthurer Folk-Doom-Band Soldat Hans (damals: Mudriver), die er auf den Ohren hatte.

Es ist kein Wunder, dass aus dem Gasi-Gänger ein Berufsmusiker geworden ist, aber auch nicht selbstverständlich, wie der 38-Jährige selbst weiss. Zwar sei die Musik für ihn stets omnipräsent gewesen, und doch dachte er bis kurz vor seiner Matura, er würde Arzt werden. «Im Musikstudium treiben sie dir das Improvisieren aus», habe sein Musiklehrer damals gesagt, weshalb er den Traum, Berufsmusiker zu werden, verdrängte. Aufgeflammt ist dieser erst wieder, als er zum ersten Mal von Jazzschulen hörte. So kam es, dass er 2012 den Master in Jazz Performance an der Hochschule Luzern abschloss. Heute ist er als hauptberuflicher Musiker in zahlreichen Projekten engagiert.

Eins davon heisst Hely. Unter diesem Namen produziert er gemeinsam mit dem Schlagzeuger Jonas Ruther seit seiner Studienzeit minimalistische Trance-Jazz-Klänge. Ein anderes heisst Ikarus und entstand etwa zeitgleich. Das Minimal-Jazz-Quintett schreibt ihrer Musik, die sphärische Vocals mit treibenden Polyrhythmen von Schlagzeug, Klavier und Kontrabass verbindet, eine «kinetische Wirkung auf den menschlichen Körper» zu. Oder anders: Man soll dazu tanzen! Letztes Jahr trat der Sänger aus, seither ist Ikarus als Quartett unterwegs. Das neue Album der vier soll 2026 erscheinen.

Mit Hely und Ikarus spielte Lucca schon auf Bühnen auf der ganzen Welt. Er war als Pianist auf europäischen Festivals, in Venezuela, Indien, Russland oder Japan auf Tour. Doch so viel er auch herumkommt, es zieht ihn immer wieder nach Winterthur: «Ich liebe den Vibe hier und fühle mich zu Hause.» Er besuchte in der Eulachstadt das Gymi und wohnte zehn Jahre lang in Winterthur. Aufgewachsen ist er in Waltenstein und Unterschneit, heute wohnt er in Basel. Seinen Job als Klavierlehrer an der Winterthurer Musikschule Prova hat er trotz des Umzugs nicht aufgegeben.

Auch aus Liebe zu seiner Heimatstadt hat er 2022 zusammen mit den Winterthurer Musikern Christian Rösli, Adrian Böckli, Beat Keller und Gregor Frei die Konzertreihe Salle Bolivar auf die Beine gestellt. Dreimal fand sie im alten Theater Neuwiesenhof an der Wartstrasse statt. Die Idee dahinter war, improvisierte und genreübergreifende Konzerte entstehen zu lassen. Improvisiert, da die Musiker*innen auf dem Programm noch nie in dieser Konstellation zusammengespielt haben sollen. Genreübergreifend, weil Musiker*innen aller Genres zusammengewürfelt werden. Oder in Luccas Worten: «Die Indie-Gitarristin zusammen mit dem Techno-DJ zusammen mit der Jazz-Schlagzeugerin». Auch wenn diese Idee auf Anklang stiess, wird sie seit dem letzten Konzert im Frühjahr bis auf unbestimmte Zeit pausiert. Denn: «Im Moment ist es für uns nicht mehr stemmbar.» Mit mehr helfenden Händen und einem geringeren organisatorischen Aufwand wäre es denkbar, die Reihe wieder aufzunehmen. Momentan aber steht für Lucca ein anderes Projekt im Vordergrund: Fri3ser.

Fri3ser, das ist Lucca Fries am Piano, Sarah Zaugg (auch Mitglied bei den Winterthurer HATHORS) am E-Bass und Luca Ramella (auch Schlagzeuger bei der Rapperin Big Zis) als Drummer. Seit über einem Jahr arbeiten sie an ihrer Musik. Ende 2024 haben sie ihre ersten Konzerte gespielt. Im Dezember erscheint ihr Debütalbum. Dieses Projekt verbindet Lucca stark mit seiner Heimatstadt, denn Winti sei für ihn eine Rockstadt und seine hier wurzelnde Liebe für Alternative Rock habe er in das Projekt einfliessen lassen. «Ich wusste lange nicht, wie ich das Klavier in den Rockkontext integrieren kann, sodass es mir gefällt», sagt Lucca. Eigentlich sei er ein «Drummer at heart» – das Schlagzeug ist sein gelerntes Zweitinstrument. Aber er sei mittlerweile ans Klavier gebunden und dies sei nun mal kein Rockinstrument. Mit Fri3ser hat Lucca Jazz und Rock kombiniert. Das Resultat: schwere Rockbeats, angezerrte Bassriffs und atmosphärische Piano-Drones, die als Minimal-Progressive-Jazz auf dem Programm stehen.

Er sei wieder bereit, die Herausforderung dieses neuen Projekts anzugehen, nachdem er sich eine Weile etwas zurückgezogen habe. Auch wenn es wie ein Klischee anmutet, so komme auch bei ihm manchmal die Seite des zurückgezogenen Musikers hervor, der im stillen Kämmerchen für sich etwas braut. Früher sei er in neue Projekte eher hineingestolpert. Aus «ich sage einfach mal ja» wurden Abenteuer, die gleichermassen aufregend wie überfordernd waren, wie etwa 2016 eine Tour in Indien mit Hely. «Da habe ich noch den Fehler gemacht, mich nach dem ersten Konzert abzuschiessen», erinnert sich Lucca. Während er als junger Musiker noch auf Tour seinen Traum lebte, frage er sich mittlerweile, ob er das wirklich noch will: stundenlange Reisen zu Konzerten, lieblose Pizzen auf dem Weg und kurze Nächte in Budgethotels – alles für eineinhalb Stunden auf der Bühne. Auch mit der Strukturlosigkeit des Musikerdaseins habe er teilweise Mühe. «Es gibt nichts Schlimmeres als aufzuwachsen und zu denken: Was mache ich heute?»

Am Ende hört es sich simpel an, wenn Lucca sagt: «Die Musik nach so vielen Jahren und so viel Hingabe wegzuwerfen, wäre schade.» Um zu dieser Einsicht zu gelangen, musste er erst erkennen, was ihm diese Karriere alles gibt. Er mache die Musik schon lange nicht mehr, um sich zu beweisen, sondern für sich und um das, was ihm gefällt, zu teilen. Es sei ein schöner Moment gewesen, als er gemerkt habe, dass die Musik für ihn «kein Ego-Ding» mehr ist. «Es geht nicht darum, ob ich dir gefalle oder nicht». Vielmehr sage er sich heute: «Das habe ich zu geben – vielleicht gefällt es dir, vielleicht auch nicht.»

Maria Keller schreibt gerne Porträts fürs Coucou und vernachlässigt ihr verstaubtes E-Piano.

Giglio Pasqua ist freischaffender Fotograf und Velokurier in Winterthur.

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