Wenn Blumen neue Wurzeln schlagen

Wenn Blumen neue Wurzeln schlagen

Für Iryna Evora ist jede Blume einzigartig. Die Ukrainerin gab in ihrer Heimat ein florierendes Blumengeschäft auf – und wagte in der Schweiz einen Neuanfang. Seit drei Jahren lebt sie in Winterthur und kreiert in ihrem Laden «EvoraFlower.Studio» minimalistische Blu-menarrangements.

Für wen sind die Blumen? Aus welchem Grund werden sie bestellt? Welches Budget steht zur Verfügung? Diese drei Informationen braucht Iryna Evora, bevor sie mit der Verarbeitung einer Blumenbestellung beginnt. «Natürlich frage ich auch nach, ob die Kunden eigene Wünsche haben», sagt Iryna, «am liebsten habe ich aber freie Hand, dann kann ich so richtig kreativ sein.» Die 33-jährige Ukrainerin ist Floristin und Künstlerin zugleich. Ihr Laden «EvoraFlower.Studio»befindet sich im Zürcher Kreis 5

Hier steht ein grosser, weisser Tisch, dahinter ein Kühlregal für Blumen. Beide leer, wenn Iryna nicht gerade an einem Auftrag arbeitet. Denn Blumengestecke gibt es nur auf Vorbestellung – per Online-Formular oder Instagram –, das hat sowohl ökonomische als auch ökologische Vorteile. Und: «Ich habe nie Blumenreste.» Die Blumensträusse stellt Iryna unter anderem nach der Ikebana-Technik zusammen, einer japanischen Kunst des Blumenarrangierens. Dabei werden mit Blumen, Zweigen und Blättern harmonische Kompositionen geschaffen, die die Schönheit der Natur und die Vergänglichkeit des Lebens widerspiegeln sollen. Durch die Auseinandersetzung mit dieser Technik lernte Iryna die Schönheit einfacher Blumen zu schätzen und fand Gefallen an minimalistischen Arrangements: «Manchmal genügt etwas Kleines auf dem Tisch, um die Seele zu erfreuen.»

Angelehnt an die Neuromantik – eine Kunstbewegung des frühen 20. Jahrhunderts, die sich mit träumerischen Motiven gegen den nüchternen Realismus und die Moderne stellte – verbindet Iryna moderne und romantische Elemente miteinander. Dabei arbeitet sie mit wenigen Blumen und kreiert schlichte Arrangements, ein Zeichen gegen den vorherrschenden Materialismus in der heutigen Zeit.

Am liebsten stellt sie Blumenarrangements für Hochzeiten her. «Ich liebe Hochzeiten», sagt Iryna mit leuchtenden Augen, «für mich ist es sehr interessant, Blumen für ein Paar zusammenzustellen.» Jede Hochzeit sei einzigartig und dementsprechend gleiche auch kein Arrangement dem anderen.

Genauso gerne wie Hochzeits-Arrangements gestaltet die Künstlerin Installationen. Vergangenen Valentinstag durfte sie eine Installation zur Lancierung einer neuen Seife der Marke «Soeder» entwickeln. «Das war so cool», sagt Iryna, «die Leute kamen oft auch nur, um die Installation zu bestaunen.» Die 33-Jährige kooperiert gerne mit Marken. Es sei schön mit anderen Leuten zu arbeiten und gemeinsam auf neue Ideen zu kommen. Deshalb bietet Iryna auch Workshops an, in denen sie ihr Wissen weitergibt.

 «Mit meinen Blumen möchte ich positive Energie verbreiten», sagt Iryna, «ich will, dass die Menschen Liebe und Freundlichkeit spüren, wenn sie sie anschauen.» Ihre Kompositionen sollen eine Anregung dazu sein, der Schnelllebigkeit des Alltags hin und wieder zu entkommen.

Irinas Leidenschaft für Blumen fand ihren Anfang in Kiew: 2012 bat ihre Schwester sie, bei den Blumenarrangements für eine Hochzeit zu helfen. Die Blumen dafür wählte sie im lokalen Blumenmarkt aus: «Erst dadurch ist mir klar geworden, dass ich direkt daneben wohne.» Sie stellte Blumensträusse passend zu den Kleidern der Hochzeitsgäste zusammen. Eine Fotografin erstellte Bilder von ihren Arrangements und schon hatte Iryna ihre ersten Portfolio-Bilder.

Kurz darauf wurde sie auf einen kleinen Blumenladen auf dem Weg zu ihrem damaligen Büro-Arbeitsplatz aufmerksam. Sie zeigte der Inhaberin des Ladens Bilder ihrer Blumenkompositionen und diese erklärte sich sofort bereit, Iryna ihr Wissen über die Schnittblumenpflege weiterzugeben. «Man kann nicht einfach alle Blumen wild zusammenstellen», sagt Iryna, «jede Blume hat ihre Eigenheiten, es gibt Theorien, wie man sie richtig kombiniert und schneidet.» Dafür teilte Iryna ihren Stil der asymmetrischen Blumensträusse mit der Ladeninhaberin. Die beiden gründeten schliesslich einen gemeinsamen Blumenladen und benannten ihn nach der Strassennummer: «29 Blumen». Iryna arbeitete eine Zeit lang dort, nach einem Auslandsaufenthalt führte sie mit derselben Kollegin einen zweiten Laden in Kiew. Nach einigen Jahren beschloss sie, ihren eigenen Laden zu gründen.

Während ihrer Selbständigkeit hatte sich Iryna einen treuen Kund*innenstamm aufgebaut und kooperierte regelmässig mit Fashion Designer*innen. Das Geschäft lief gut und sie konnte sogar Assistent*innen einstellen. «In dieser Zeit war ich sehr glücklich», erinnert sich Iryna. Eine blühende Zukunft stand vor ihr. Eigentlich. Doch dann brach der Krieg aus und all ihre Pläne wurden weggeweht. Wie welke Blütenblätter im Wind.

In der Schweiz stand sie wieder am Anfang. Um ihre Blumenprojekte zu finanzieren, hielt sie sich mit Teilzeitjobs über Wasser, während sie gleichzeitig einmal in der Woche zum Deutschunterricht ging. Doch die Gastroarbeitszeiten liessen sich nur schwer mit ihrer Arbeit als Floristin vereinen: Abendschichten in der Bar und morgens um 7 Uhr Blumen frisch vom Blumenmarkt einzukaufen, wurde mit der Zeit anstrengend. Doch sie dachte nicht daran aufzugeben. Zu dieser Zeit machte sie ihre Sträusse von zu Hause aus, doch an ihrem Wunsch ein eigenes Geschäft in der Schweiz zu eröffnen, hielt sie fest.

Heute hat sie es geschafft, auch wenn es noch nicht ausreicht, um nur davon leben zu können. In ihrem Laden «EvoraFlower.Studio» kann sie ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Kraft dazu tankt sie an ihrem Wohnort Winterthur. Dort mag sie die Brunnen, die in der ganzen Stadt verteilt sind und das Glockenspiel der Kirchen. Doch hin und wieder fehlt der Kiewerin das Leben in der Grossstadt: «Ich vermisse Strassen mit vielen Leuten und auch die Bars und Cafés haben hier nicht bis spät in die Nacht offen.»

Am wohlsten fühlt sie sich in Winterthur zwischen den 2ʹ900 Rosen im Rosengarten. Umgeben von einer wunderschönen Aussicht und von dreihundert Variationen ihrer Lieblingsblume. Für die meisten davon kennt sie die exakte Bezeichnung. «Ich kann mir die Vornamen von Menschen nicht gut merken», sagt sie, «aber mich an Blumennamen zu erinnern, fällt mir leicht.»

Nina Cascioni ist Journalismusstudentin aus St. Gallen. Wenn sie nicht gerade an einem Artikel schreibt, findet sie ihren Flow im Yoga, teilt Geheimnisse mit ihrem Tagebuch und träumt von Einhörnern.

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