Ein paar Monate nach dem letzten Tanzfestival Winterthur blickt Nadine Schwarz nochmals zurück. Zehn Jahre lang leistete die ehemalige Festivalleiterin und Geschäftsführerin des Vereins tanzinwinterthur weit mehr für den zeitgenössischen Tanz in der Stadt, als ein Fünfzehn-Prozent-Pensum kompensieren kann.
Als Nadine vor über zehn Jahren vom damaligen Vorstandsmitglied Helena Nicolao auf die Festivalleitungsstelle aufmerksam gemacht wurde, traute sie sich diese Arbeit eigentlich gar nicht zu. Doch Neues auszuprobieren und Dinge anzupacken, wenn eine Dringlichkeit besteht, zieht sich durch Nadines Lebenslauf. Auch wenn dies bedeutet, immer wieder vor einer Aufgabe zu stehen, der gerecht zu werden sie erst noch lernen muss. «Dafür verfluche ich mich manchmal», schmunzelt die 44-Jährige. Dementsprechend sei die Anfangszeit beim Tanzfestival eine harte Schule gewesen. Grosse Namen kamen nach Winterthur und tanzten dann teilweise vor gerade mal 25 Zuschauer*innen. «Ich musste oft den Kopf hinhalten, denn ich trug die Verantwortung dafür, ob Publikum da war oder nicht», erinnert sich die gebürtige Aargauerin. Auch das Theater am Gleis, wo das Tanzfestival jeweils stattfindet, war damals noch keine etablierte Bühne für zeitgenössischen Tanz.
Ein Höhepunkt war 2017 das 25. Jubiläum des Tanzfestivals. Anlässlich dieser Feierlichkeit führten Nadine und ihr Team ein neues Format namens Intro ein. Sie luden ehemalige Festivalleiter*innen ein, Kurzstücke zu konzipieren und aufzuführen. Dies entpuppte sich als Erfolgskonzept, das berührte: So kam es etwa zu einer Wiedervereinigung einer längst auseinandergegangenen Tanzkompanie oder es wurde eine Rede darüber gehalten, welches Stück aufgeführt werden würde, wenn der Körper es noch zuliesse. Seither haben die Intros einen fixen Platz in der Festivalplanung. Einzig Tanzschaffende mit Bezug zu Winterthur können sich dafür bewerben. Damit setzte Nadine eines ihrer wichtigsten Anliegen um – die Einbindung der lokalen Szene. «Als ich anfing, waren die Winterthurer*innen sehr zurückhaltend», erinnert sie sich. «Ich rief die Choreograf*innen sogar Zuhause an und fragte sie, ob sie nicht etwas aufführen wollen.» Für Nadine war klar: «Am Winterthurer Tanzfestival gehören Winterthurer*innen auf die Bühne!»
Auf den Erfolg der Intros folgte 2022 mit der Koproduktion ein weiteres Format, welches exklusiv für Tänzer*innen aus Winterthur geschaffen wurde. Hier können sich ehemalige Intro-Künstler*innen um finanzielle Unterstützung bewerben, welche die Basis für ein abendfüllendes Stück legen soll, das am Festival Premiere feiert.
Schon lange vor ihrer Zeit in Winterthur startete Nadines kulturpolitisches Engagement für den Tanz in Zürich, wo sie nach dem Abschluss ihrer Tanzausbildung in Toronto und Rotterdam hinzog und auch heute noch mit ihrer Familie lebt. Während sie eine weitere Ausbildung zur Physiotherapeutin absolvierte und erste Engagements als Tänzerin und Choreografin erhielt, schloss sie sich der Interessensgemeinschaft Tanzlobby an. Dort wollte sie insbesondere dem Mangel an Bühnen für Tanzschaffende entgegenwirken. Bis 2019 setzte sie sich für die freie Szene in Zürich ein und lancierte unkuratierte Räume, wo Künstler*innen experimentieren und Bühnenerfahrung sammeln konnten.
Auch in Bezug auf Entlöhnung war es ihr wichtig, etwas zu verändern, anstatt nur zu kritisieren. «Als ich in der Tanzszene Fuss fasste, waren es noch andere Zeiten. Es war klar, dass ich wenig Geld verdienen würde», sagt Nadine. Insbesondere in der freien Szene waren die grossen Geldtöpfe kaum erreichbar. So setzte sie sich für eine faire Entlöhnung von Tanz- und Kulturschaffenden ein: 2020 gründete sie mit anderen Engagierten den Verein «Fairspec». Sie diskutierten über ethische Grundwerte der Zusammenarbeit und faire Entlöhnung und erstellten schliesslich einen Kodex von und für die freie Szene der darstellenden Künste. Diesen Kodex brachte Nadine auch nach Winterthur. 2022 wurde die Tänzerin und Choreografin Audrey Wagner als Co-Leitung an Board geholt und gemeinsam begannen sie noch im selben Jahr, die Idee einer fairen Entlöhnung umzusetzen. «Wir entschieden uns, das Festival um einen Abend zu kürzen», erinnert sich Nadine. «Dafür konnten wir unseren Leuten unter anderem die BVG zahlen.»
Als sie die Tanzlobby in Zürich verliess, hatte sie das Gefühl, dass es der richtige Zeitpunkt war. Gute Leute waren an den richtigen Positionen, der Verein war solid aufgestellt. In Winterthur bewog sie dasselbe Gefühl, die Verantwortung an ihre Nachfolgerin Eva Maria Küpfer abzugeben. Obwohl solid im finanziellen Sinne in Kulturbetrieben immer relativ ist – auch in der Kulturstadt Winterthur. Das kulturelle Angebot sei zwar gross, doch «Winterthur kann Kultur nicht nur konsumieren, sondern muss sie auch stärker fördern», meint Nadine.
Für das Tanzfestival und den Verein tanzinwinterthur sind die Fördergelder der öffentlichen Hand vorerst gesichert. Seit 2023 zahlt der Kanton Zürich mehr Förderbeiträge und ab 2025 erhöht auch die Stadt Winterthur ihren Beitrag im Rahmen des Subventionsvertrags. «Jetzt hat die neue Festivalleitung gut drei Jahre Zeit, Neues zu entwickeln, bevor die Förderbeiträge mit der Stadt neu diskutiert werden müssen», sagt Nadine.
Auch persönlich war es für sie der richtige Zeitpunkt, um die Verantwortung für den Verein und das Festival abzugeben. Denn die letzten zehn Jahre zehrten auch an ihren Kräften: «Als Leiterin gab es immer wieder diese Momente: Hier noch eine Nachtschicht, da noch schnell Einspringen. Und das mit kleinen Kindern.» Sie wollte auch Platz machen für neue Menschen, neue Ideen und neue Energie. Doch ihr Engagement für den Tanz wird weitergehen. Als Tanzvermittlerin des Opernhaus Zürichs gibt sie weiterhin Workshops und inszeniert Stücke mit Zürcher Schulklassen. Denn eines ist klar: Das Engagement für den Tanz endet für Nadine nicht mit einer offiziellen Funktion – es bleibt ein Teil von ihr.