Eine Laufbahn für die Soziokultur

Eine Laufbahn für die Soziokultur

Ohne Rolf Heusser gäbe es die Alte Kaserne, die Internationalen Kurzfilmtage und das Kino Cameo nicht in der heutigen Form. Bei allen drei Kulturinstitutionen war der Winterthurer Filmliebhaber an der Gründung beteiligt. Neben seinem Engagement in verschiedenen Vereinen, Stiftungen und Kommissionen setzte er sich als städtischer Mitarbeiter für die soziale Stadtentwicklung ein und baute die Jugendarbeit mit auf. Sein Werdegang ist ein Beispiel dafür, wie unterschiedlich Kultur gefördert werden kann.

«Ich bin ein Pfadileiter-Typ», sagt Rolf Heusser und lacht – zwischen den Outdoor-Aktivitäten vom Anfang seiner beruflichen Laufbahn und seinem heutigen kulturellen Engagement liegen Welten. Seine Jugend in den 1970er-Jahren verbrachte der einstige Stadtzürcher im Cevi, wurde dort Leiter und arbeitete später im Verband. Nachdem er bei einer Umstrukturierung seine eigene Stelle abschaffen konnte, liess er den Cevi hinter sich. Pioniergeist und Abenteuerlust sind aber bis heute Eigenschaften, die Rolf auszeichnen.

Nach der Zeit beim Cevi bewarb er sich für eine Stelle im damaligen «Büro für Gemeinwesenarbeit» der Stadt Winterthur. Die Fachstelle organisierte erste Projekte im Bereich der Sozialarbeit, Kulturförderung und Freizeitaktivitäten. Erst beim Stellenantritt Anfang der 1990er-Jahre habe er realisiert, dass er damit auch die Alte Kaserne als Kulturzentrum für Winterthur aufbauen sollte: ein Haus, das Räumlichkeiten für die unterschiedlichsten Bedürfnisse bieten sollte. Die einzige Vorgabe seines damaligen Vorgesetzten, FDP-Stadtpräsident Martin Haas, war, dass es auf keinen Fall eine zweite Rote Fabrik werden sollte. Denn diese galt in den 1980er-Jahren als Treffpunkt der Jugendbewegung, welche bei Demonstrationen in Auseinandersetzungen mit der Polizei geriet.

«Das spannende an all meinen Jobs war, dass ich immer sehr grossen Entscheidungsspielraum hatte», sagt Rolf. Oft gab es keine Vorbilder, sodass er sowohl Ziele als auch Aufgaben selbst definieren musste. Für die Konzeption der Alten Kaserne hiess das: alle Interessierten an einen Tisch holen und ihre Wünsche anhören, sich dabei aber von keiner Gruppe einnehmen lassen. Nach drei Jahren Planung wurde das Kulturzentrum eröffnet. Das Konzept scheint sich bis heute bewährt zu haben: Die Alte Kaserne habe sich seither nicht gross verändert, sagt Rolf, einige Räume seien noch immer nach den ursprünglichen Projekt-Titeln benannt.

Zur selben Zeit gründete der damals 40-Jährige mit seiner Partnerin eine Familie. Rolfs anspruchsvolle Anstellung und dazu die Arbeit, die kleine Kinder bereiten, forderten das Paar. «Ich weiss nicht mehr, wie wir den Stress bewältigt haben», sagt er rückblickend. Doch das hielt ihn nicht davon ab, zusätzlich ein neues Modell auszuprobieren: Nach Abschluss des Projekts Alte Kaserne wollten beide zu gleichen Teilen die Familienarbeit übernehmen, sodass auch seine Partnerin in ihren Beruf zurückkehren konnte. Teilzeitarbeit war in den 1990er-Jahren noch sehr selten – insbesondere bei Männern in leitenden Positionen. Doch mit einem durchdachten Konzept und Flexibilität überzeugte Rolf den Stadtpräsidenten und teilte sich die Leitung der städtischen Soziokulturabteilung fortan 60 zu 40 Prozent. «Das war zu dieser Zeit pionierhaft», erinnert er sich. Sogar die Zeitschrift «Annabelle» habe damals darüber berichtet. Und er ist noch immer überzeugt vom Job-Sharing-Modell: «Das hat gut funktioniert, man muss halt nur wollen.»

Als Vernetzer bewegte Rolf sich immer an der Schnittstelle zur Politik, scheute keine Auseinandersetzung und bemühte sich um seine Anliegen – doch selbst ein politisches Amt ausüben wollte er trotz seinem SP-Beitritt im Jahr 2011 nie. «Ich bin lieber einer, der im Hintergrund bleibt», sagt er. Ein stiller Schaffer eben. Wenn der 71-Jährige von all den Projekten erzählt, die er bisher (mit-)gemacht hat, dann scheint ihm nie der Mut gefehlt zu haben. Er ist einer, der Steine ins Rollen bringt, um eine Sache weiterzubringen. In seinem Berufsleben hat er oft Strukturen aufgebaut, um anderen Personen Freiräume für ihre persönliche Entwicklung zu schaffen.

Rolf Heusser hat ein Auge für «Problemherde» und ein Talent, Leute zusammenzubringen. Als Anwohner*innen in den 1990er-Jahren vermehrt Jugendliche von öffentlichen Plätzen vertrieben und die Gewalt unter Jugendlichen zunahm, rief er die Betreiber*innen der privaten Jugendtreffs in den Stadtquartieren an einen Tisch und erarbeitete mit ihnen gemeinsam ein Leitbild für die Arbeit mit Jugendlichen. Ihm war und ist noch immer wichtig, dass jede*r seinen*ihren Platz hat im öffentlichen Raum. «Auch Jugendliche müssen sichtbar sein», sagt er und stand deshalb bei jeder Gelegenheit für das Jugendhaus in der Steinberggasse und für die offenen Quartierjugendtreffs ein. Dass die verschiedenen Interessen, die in der Steibi aufeinandertreffen, zu sozialer Reibung führen, war ihm natürlich bewusst. «Das erforderte einen Aushandlungsprozess mit allen Beteiligten, deshalb gründeten wir mit dem Verein Strassensozialarbeit die «Mojawi». Die «Mobile Jugendarbeit Winterthur» war eines der ersten sozialarbeiterischen Angebote im öffentlichen Raum der Stadt, und sie setzt sich heute noch für die Jugendlichen auf der Strasse ein.

Eigentlich wäre Rolf als Jugendlicher gerne in einen kreativen Beruf eingestiegen. Doch sein Vater, selbst Notar, wollte, dass er einen «richtigen» Beruf erlernt. So machte er ebenfalls eine Notariatslehre und studierte anschliessend zwei Jahre Jus, brach das Studium dann aber ab. Trotzdem konnte Rolf während der 30 Jahre, in denen er in unterschiedlichen Funktionen der Winterthurer Stadtverwaltung arbeitete, oft vom damals erworbenen Wissen profitieren.

2011 liess sich Rolf frühpensionieren. Seither ist er vor allem im kulturellen Bereich tätig, in den Ruhestand treten möchte er noch nicht: «So lange ich kann, bin ich aktiv, das macht mir Freude». Aufgrund seiner Krebserkrankung hat er jedoch in den letzten zwei Jahren viele Projekte und Mandate weitergegeben. Etwa das Präsidium in der Cassinelli-Vogel-Stiftung, seine Vorstandsaufgaben in der Kulturlobby und im Kino Cameo. Weiterhin aktiv ist er in der Programmgruppe des Kino Cameo, unterstützt befreundete Kulturschaffende mit Coachings und im Fundraising und auch der Besuch von Filmfestivals steht regelmässig auf seiner Agenda.

2020 wurde der passionierte Filmliebhaber in die Filmkommission der Stadt Zürich gewählt. Dort entscheidet er mit der Filmregisseurin Jela Hasler und der Filmwissenschaftlerin Tereza Fischer über eine Summe von 100'000 Franken, die an fünf bis sieben jährlich stattfindende kleine Filmfestivals der Stadt Zürich verteilt werden. An dieser Arbeit gefallen ihm besonders die Diskussionen, die er mit seinen zwei Kommissionsmitgliedern über Sinn und Zweck eines Festivals führt – und natürlich auch die anschliessenden Besuche ebenjener. «Die Festivals würde ich sowieso besuchen, so erhalte ich aber noch eine Spesenentschädigung», sagt er.

Der bezahlte Festivalbesuch ist ein schönes Upgrade, wenn man bedenkt, dass Rolf bereits als junger Mann regelmässiger Gast am Filmfestival Locarno war, damals aber noch auf dem Parkplatz im Auto schlief, um Kosten zu sparen – eine der zahlreichen Anekdoten, die er im Gespräch sehr pointiert erzählt. Eine weitere handelt von den Internationalen Kurzfilmtagen, konkret von deren Gründung, an der er vor 26 Jahren beteiligt war. Die Grundidee für das Kurzfilmfestival entstand bei einer Runde Bier mit dem Filmclub Filmfoyer. Die erste Ausgabe wurde daraufhin organisiert. Und dann seien die Festival-Ausgaben immer erfolgreicher geworden, so dass sie schlicht nicht mehr aufhören konnten. Nach zehnjähriger Mitwirkung im Festivalteam, zog sich Rolf 2007 zurück, weil neue, engagierte Mitarbeitende «auf der Matte» standen und den Fortbestand sicherten.

Dass eines seiner vielen Projekte, die er (mit-)iniitiert hat, scheitert – das musste Rolf bisher nicht miterleben. «Aber natürlich hatte ich auch schlaflose Nächte.» Besonders in Erinnerung ist ihm die Zeit geblieben, als das Filmfoyer sich 2015 den Traum eines eigenen Kinos erfüllen wollte und wichtige Entscheidungen getroffen werden mussten, bevor sie finanziell abgesichert waren. Diese Unsicherheiten müsse man einfach durchstehen und in einem guten Team und einer so engagierten Kinoleiterin wie Liliane Hollinger könne man sich gegenseitig Mut zusprechen. Sein Rat an junge Menschen lautet daher auch: «Glaub an dein Projekt und zieh es durch!» Dass das Filmfoyer seinen Traum mit dem Kino Cameo umsetzen konnte, ist auch sein grösster Stolz.

Langweilig wird es Rolf trotz weniger Mandate nicht: Im Mai geht es nach New York. Ein befreundeter Fotograf organisiert in der Stadt einen Streetart-Fotografie-Workshop für junge Künstler*innen, Rolf hat sich um die Finanzierung gekümmert. Das Geld haben sie zwar noch nicht komplett zusammen, aber die Sache steht. Rolf reist privat mit und freut sich auf die Stadt, auf die Kunst an den Fassaden als auch in den Museen, und vor allem auf spannende Begegnungen. Vielleicht werden sich noch einige Freund*innen anschliessen. Denn so ist es oft, wenn Rolf eine Idee hat: Er weiss zu begeistern und findet Leute, die mitziehen.

 

Rebecca Lehmann war bis im März Redaktorin beim Coucou und schreibt am liebsten Texte über das Zusammenleben in Winterthur.

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