Nun sag, wie hast du’s mit dem Toast Hawaii?

Nun sag, wie hast du’s mit dem Toast Hawaii?

«Gott ist todt!» – mit diesem Ausruf läutete der Pfarrerssohn Nietzsche einen der wohl skandalösesten Kriminalfälle des 19. Jahrhunderts ein. Bis heute ist er nicht gelöst. Bis heute fehlt ein wichtiges Indiz: Die Leiche. Wo ist sie? Wer hat sie versteckt?

Dieses Rätsel – oder Geheimnis? – ist noch immer ungelöst. Doch es gab einen radikalen artistischen Versuch, sich dieser scheinbar uneinholbaren Leerstelle anzunähern. Ein Versuch, der sowohl in der Tradition des Dadaismus als auch der abstrakten Moderne steht. Er setzt sich zusammen aus seltsamen Materialien und Formen … einem hellbraunen Quadrat, einem rosaroten Fleck, einem grellgelben Kreis, einem surreal verlaufenden Dunkelgelben. Die Rede ist natürlich von jenem Werk, das unter dem Titel «Toast Hawaii» berühmt wurde. Dieses Werk wurde erstmals in den 1950er-Jahren in einem massenmedialen Rahmen präsentiert, in der westdeutschen Sendung «Bitte, in zehn Minuten zu Tisch». Der sich als TV-Koch ausgebende Clemens Wilmenrod, der bekanntermassen in Wirklichkeit kein gelernter Koch, sondern ein Schauspieler war, präsentierte es. Dieses Spiel von Sein und Schein, das Wilmenrods Auftritt charakterisiert – Schauspieler oder Koch? –, macht «Toast Hawaii» freilich in der «opinio communis» der Gastronomiekritiker*innen bis heute zu einem höchst kontroversen Werk. Diese Kontroverse spiegelt sich auch in den Zutaten wider: Ist Toast wirklich Brot? Sind Käse-Scheibletten wirklich Käse? Sind Konserven-Ananas wirklich Ananas? Wie die Berliner Kunstkritikerin Chantal Scharlatania virtuos formulierte, setzt uns «Toast Hawaii» der Frage aus: «Wenn man ist, was man isst, was ist es dann, was man isst?» Die ebenfalls die kultivierten Feuilletons der bildungsbürgerlichen Zeitungen im Sturm erobernde Replik auf Scharlatania stammte dann freilich vom Theologen Karkovski Futzski: «Zuoberst, die Käse-Scheiblette. Sie repräsentiert unsere ökonomischen, intellektuellen, spirituellen Illusionen. Durch diese Illusionen verbergen wir das Loch in der Mitte der goldsüssen Ananas, die uns an das richtige Leben erinnert. Und wir sind stets darum bemüht, dieses Loch zu verbergen, denn es gibt den Blick frei auf die reine Materie unserer Existenz: das rohe Fleisch. Doch auch dieses rohe Fleisch versperrt nur den Blick auf etwas ‹Grundlegenderes›. Auf jene Mehlpartikelmasse, die ebenso luftig leer wie die interplanetare Materie, uns erinnert an das, wie es in Goethes Faust heisst, ‹Was die Welt im Innersten zusammenhält› ». Bis heute polarisiert die Frage «Wollen wir heut Abend Toast Hawaii machen?». Bis heute gab Wilmenrod eine der radikalsten artistischen Antworten auf jenen Kriminalfall, auf den Nietzsche hinwies. Und bis heute scheiden sich die Geister an jenen metaphysischen Fragen, die «Toast Hawaii» aufwirft. Sie scheiden sich in jene, für die das Leben ein Rätsel ist, das es zu lösen gilt, und jene, für die es ein Geheimnis ist, in das es hineinzubeissen gilt. Möchtest du dich auf Wilmenrods Experiment einlassen, findest du alle Zutaten in dem nächstgelegenen 24-Stunden-Automaten der Migros «Teo», dessen Name dem Experiment entsprechend raunend an das griechische «theós», also «Gott», erinnert.

Toast Hawaii:
1 Pack 24-Stunden-Automaten-Toast
1 Pack Rohschinken
1 Pack Käse-Scheibletten
1 Dose Ananas

Julius Schmidt ist Textredakteur beim Coucou und folgt der Devise «think outside the lunchbox».

Nils Lucas Mund ist Bildredakteur beim Coucou und fotografiert gerne über den Tellerrand hinaus.

Das Kulinarium dreht sich rund ums Essen.

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