Das Ende einer Utopie

Das Ende einer Utopie

Die Villa K war eine Winterthurer Institution für nichtkommerzielle Gegenkultur. Nun wird sie abgerissen. Zwei langjährige Bewohner erinnern sich in Text und Bild: Der eine ordnet die Geschichte des Hauses kulturanalytisch ein, der andere hält den alltäglichen Wahn-sinn bildlich in einer Collage fest.

Gefühle, Strukturen und Ereignisse können sich in konkreten Dingen materialisieren. Ein Ort wird bei-spielsweise dadurch bestimmt, dass sich in ihm das utopische Ideal einer Kommune, ein familiäres Zu-sammengehörigkeitsgefühl von Freund*innen und legendäre Partys realisieren. In Oberwinterthur gab
es an der Römerstrasse 81 bis vor Kurzem ein Haus,
in dem sich genau diese Zutaten in Materie verdichteten und auf seine Bewohner*innen und Besucher*innen abfärbten: die Villa K. Würde man deren Geschichte auf die Leinwand bringen wollen, eignete sich wohl am ehesten das Genre Liebesfilm – es wäre trotz einiger derber anarchistischer Witze eine Romanze der grossen Gefühle.

Als negatives Vorbild könnte Kubricks Film «The Shining»dienen. Darin spielt das Overlook-Hotel die heimliche Hauptrolle – in ihm materialisiert sich der gesamte Horror, der an jenem Ort verübt wurde und durch den es zu dem wurde, was es ist: eine Manifestation der Vernichtung der ersten US-amerikanischen Völker, der Verbrechen des Kapi-talismus und der patriarchalen Gewalt. Das Overlookist auf und aus diesem Horror gebaut. Die Villa K hingegen versuchte sich während 15 Jahren gegen den kapitalistischen Horror zur Wehr zu setzen und ihm mit Liebe und dem Stinkefinger die Stirn zu bieten.

Die Villa K wurde 2006 von Neuwinterthurer*innen bezogen. Ihre damaligen Vermieter*innen sprachen davon, dass das Haus in zwei Jahren abgerissen werde. Aus den zwei Jahren wurden schliesslich über 15; zu den ersten vier Mieter*innen gesellten sich über die Jahre mehr als zwanzig andere, die teilweise bis zu zwölft miteinander lebten. Doch die Villa K war nicht einfach eine grosse WG, deren Mitbewohner*innen auch nach ihrem jeweiligen Auszug eng miteinander, mit dem Haus und mit den neuen Bewohner*innen verbunden blieben, sondern auch eine Institution der Gegenkultur in Winterthur und ein Ort für nichtkommerzielles Kulturschaffen. Das lag nicht nur an den Menschen, die in der Villa K verkehrten, sondern auch am Haus selbst.

Mit der Aussicht auf den baldigen Abriss kam schon beim ersten Einzug die Erlaubnis, das Haus und den Garten baulich zu verändern. Diese Offenheit machte die Villa K zu einem Freiraum für neue Ideen: Wo buchstäblich Wände herausgerissen werden konnten, liessen sich auch die Grenzen des Denkens nicht einschränken. Der neue Backofen brauchte ein Abluftrohr, aber die Aussenfassade durfte nicht angetastet werden: Schon roch es im Treppenhaus nach frischem Brot, weil der Abzug im Hausinnern endete. Mitbewohnende erwarteten
ein Baby: Schon war im Dachstock ein neues Zimmer bezugsbereit. Im Keller konnte man nichts lagern: Schon fanden darin erste Konzerte statt. Gebaut wurde nicht nur für die Bewohnenden selbst. Mit gross angelegten Partys wurde einem diversen und wachsenden Publikum immer neue Kreationen vorgesetzt: Pool und Pizzaofen für das Gartenfest und für die Kinder eine Rutschbahn, eine altmo-
dische Tapete für die «Spiesser*innen»-Party, eine hölzerne Bar für die «Wild West»-Party oder gar die Verwandlung der Stube ins Weltall für ein intergalaktisches DJ-Set. Weil alle Mitbewohner*innen ihre unterschiedlichen Fähigkeiten – sei es Booking, Catering, Ton- und Lichttechnik oder die Versor-
gung der Gäste – einbrachten, spielten im Villa-Keller bekannte und junge Bands aus Winterthur, der Schweiz und der ganzen Welt; die Haus-DJs legten bald in Clubs, an Openairs und in anderen Gross- WGs auf. Die Villa K wurde zum nicht-kommerziellen Markenzeichen für gute und unangepasste Unterhaltung und bewies, dass Alltag und Kulturschaffen vereinbar sind. Für alle und alles hatte die Villa K Platz: Hühner und Katzen, Couchsurfer*innen, ein gemeinsamer Gemüsegarten, das familiäre Leben
und mehrmals monatlich ein Clubbetrieb – eine Besucherin fragte überrascht: «Was, in diesem Club wohnen auch Menschen?»

Die derartige Offenheit der Villa stellte einen Rahmen bereit, innerhalb dessen sich der gegenkulturelle Widerstand der 2010er-Jahre konkretisieren konnte: Nach Jahrzehnten der Selbstauflösung ihrer einst organisierten Bewegungen und dem Scheitern von Occupy zog sich die Linke in Nischen zurück, worin sie zu Kräften kommen konnte. Obwohl die Villa K als Kollektiv nicht im herkömmlichen Sinne politisch aktiv war, schuf die WG eine Oase der Gegenkultur, in der politische Ideale der 1980er-Jahre-Linke im harten Gegenwind des neoliberalen Angriffs überwintern und zarte Triebe von Ideen, wie sie die Klimajugend heute propagiert, organisch wachsen konnten: Im Kleinen wurde erprobt, wie eine klassische Linke-WG ver-dichteten Wohnraum schafft, oder was passiert, wenn die DIY-Mentalität von der Party-Organisation auf den Gemüsegarten übertragen wird. Der Rückzug
ins Kleine war nötig, denn ausserhalb der Villa K herrschte der Horror: Ein erstarkter neoliberaler und nationalistischer, bürgerlicher Block betrieb Klassen-
kampf von oben und fuhr einen rassistischen und antifeministischen Angriff nach dem anderen. Bei-spielsweise wurden Sozialhilfen gekürzt und stattdes-
sen Steuern für Gutverdienende und Konzerne gesenkt, die Migration wurde erschwert und kriminalisiert, und die Lohndiskriminierung gegen Frauen nahm zu; in Winterthur wurde das Unbehagen über die Verdrängung von Geringverdienenden aus der Stadt durch massive Polizeirepression niedergeschlagen. Die verbürgerlichte Linke war überrumpelt: Anstatt progressive politische Ideen umzusetzen, mussten bisher errungene Fortschritte verteidigt werden. 

Mit der Villa K wurde ein utopisches Gegenmodell geschaffen. In der Villa K zu leben, bedeutete, einer subversiven ästhetischen Praxis zu folgen, die aufzeigte, dass keine Notwendigkeit bestand, mit dem hegemonialen Kultur- und Lebensweisenangebot des Neoliberalismus konform zu gehen. Andere Wohn- und Lebensformen sind nicht nur möglich, sondern sinnstiftend – zum Beispiel das Wohnen und Leben als gewählte Familie und als Kultur-arbeitende.

Während sich die Villa K als Gebäude in den vergangenen Jahren entwickelte, blieb von jeder Verwandlung irgendwo eine Spur zurück, lagerten sich Schichten von Geschichten und Spässen, Anekdoten und Veranstaltungen ab. Es waren diese Überbleibsel, die ein altes, von aussen langweiliges Haus in ein fast schon lebendes Wesen verwandelte. Seine Liebe übertrug sich sofort auf alle, die sich auf sie einliessen. 

Überall fanden sich kleine Details, die in ihrer Gesamtheit zugleich als organisch gewachsene Einheit und als eine Summe unfertiger oder abgebrochener Projekte wirkten (und beides stimmt gleichzeitig). Die Villa K war nicht nur ein Ort, in dem Dinge möglich wurden, sondern war in ihrer konkreten Materialität Mitakteurin in einem grossen Gefüge, das neben ihr aus ihren Bewohner*innen und Gästen bestand.

Doch der Horror der kapitalistischen Stadtentwicklung gestattet diesem Liebesfilm kein Happy End: Das fast schon lebendige Haus wird mitsamt Garten für Profitinteressen geschleift; wo einst Winterthurer*innen jedwelchen Hintergrundes miteinander lebten und feierten, entsteht teurer Wohnraum für wenige. Die zukünftigen Bewohner*innen dieser Appartements werden von der reichen Vorgeschichte nichts merken, denn anders als in Filmen gibt es im Leben nichts Übernatürliches.
Die Villa K, die mit unendlich viel Liebe und Herzblut entwickelt wurde und sich entwickelt hat, ist
einfach nicht mehr da.

Nur wer sie kannte, sieht in den neuen Häusern ein klaffendes Loch in Winterthurs Kulturszene.ƒ

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