Die Schweiz und ihre Söldner. Es ist eine lange Geschichte und eine streitbare. Denn sie waren und kämpften überall, die sogenannten Reisläufer aus den eidgenössischen Orten. In Spanien, Savoyen, Schweden, Venedig, England, Polen, Sardinien-Piemont, in Preussen und beim Papst: In den meisten Kriegen in Europa bis ins 18. Jahrhundert waren Schweizer involviert. Und manchmal standen sie sich auch gegenüber, die Schweizer, und schlugen sich gegenseitig die Köpfe ein, wie 1498 als König Ludwig mit eidgenössischen Söldnern Mailand eroberte und 1500 der Herzog von Mailand die Stadt mit eidgenössischen Söldnern wieder zurückeroberte.
Da sind die heutigen Söldner wesentlich harmloser. Denn sie halten keine Schwerter und Hellebarden, sondern Gitarren und Schlagzeugschläger in den Händen. Und sie kämpfen nicht auf fremden Feldern, sondern bespielen heimische Konzertbühnen: die Musiksöldner. Die Musikerinnen und Musiker also, die mit den unterschiedlichsten Bands und Projekten unterwegs sind und ihr musikalisches Können unter Beweis stellen. Für Geld, für Ehre, mit Passion. Und Winterthur ist dabei ihr Hauptquartier.
Money, money, money?
«Söldner… eigentlich mag ich den Begriff nicht», sagt Roman Weissert und nippt an seinem Schweppes. Wir sitzen im Cappuccino, gerade gegenüber seines Proberaums. «Denn einem Söldner ist es gleich, für wen er arbeitet, solange das Geld stimmt. Musiker funktionieren anders. Es muss Spass machen, die Leute müssen passen.» Roman «Romanski» Weissert muss es wissen, denn er kennt sie alle und jeder kennt ihn: Der 61-Jährige, gebürtige Winterthurer ist aus der städtischen Musikszene nicht wegzudenken. Kaum einer, der ihn nicht schon irgendwo auf einer der Bühnen Winterthurs gesehen hat – oder irgendwo sonst in der Schweiz. Der Saxophonist und Querflötist hat mit diversen bekannten Musikerinnen und Musikern von Sina über Polo Hofer und Philipp Fankhauser bis William White zusammengespielt, 2011 erhielt er den Kulturpreis der Stadt.
«Fumetti Funk» hiess eines seiner früheren Projekte. Auf seiner Website ist dabei ein Bild von 1997 zu finden, auch darauf: Luca Leombruni, Peter Haas, Christian Rösli. Rösli wurde als Jazz-Pianist eine feste Grösse, Leombruni stellte sich bei Sina hinter den Bass, Drummer Haas ging zu Polo Hofer, wie später auch «Romanski».
1997, da war Jonas Wolf neunjährig. Heute spielt der Winterthurer Gitarrist bei Bands wie The bianca Story, the ZiBBZ, Tobey Lucas und Baba Shrimps. Auch Jonas sieht den Begriff «Musiksöldner» differenziert: «Er hat irgendwie etwas heimatloses. So à la: Gib mir 300 Stutz und ich steig auf jede Bühne.» Dabei sei Geld nicht das einzige Kriterium, es müsse menschlich einfach passen.
Stern, Baschi, Baby Jail
34 Jahre Unterschied liegen zwischen Jonas Wolf und Roman Weissert, und sie setzen damit die Klammer für mehrere Generationen von Winterthurer Musiksöldnern. Fruchtbaren Generationen, so scheint es. Denn Winterthur ist voller Leute wie Roman und Jonas, und wer in den vergangenen Jahrzenten ab und zu mal an ein Open Air ging, wird den einen oder anderen schon spielen gehört haben, einen der zig Musikerinnen und Musiker, die in Winterthur aufgewachsen sind oder hier wohnen und ihr Geld als Musikerin oder Musiker verdienen: Spielte Sina, stand dort auch Luca Leombruni mit seinem Bass. Spielte Polo Hofer, so wurde er flankiert durch Roman Weissert und Peter Haas. Sang Adrian Stern «Ich han nur welle wüsse, obi dich chli cha küsse», trommelte im Hintergrund Matthias Kräutli, sang Baschi «Chum bringen hei» trommelte da bis vor kurzem Nico Looser. Rockt man mit Baby Jail, rockt man auch mit Nico Feer, bei Ritschi mit Lukas Schwengeler. Schmachteten Frauen auf dem Gurten den Singer-Songwriter James Gruntz an, so bekamen auch die Gitarristen Severin Graf und Giuliano Sulzberger ein wenig davon ab. Während die Männer am Energy Stars for Free wohl mehr Augen für Nicole Scherzinger hatten als für den hinter ihr stehenden Keyboarder Daniel Gisler.
Die Aufzählung könnte weitergehen. Doch bereits so wird deutlich: Winterthurer Musiksöldner sind auf allen Bühnen der Schweiz zu finden und sie sind zahlreich. Wieso ist das so? «Keine Ahnung», sagen Matthias «Matete» Kräutli und Daniel «Gisi» Gisler. Beide sind bekannt geworden mit ihrer Band My Name is George, beide spielen daneben noch bei weiteren Projekten mit. Matthias Kräutli gehört in der Schweiz im Pop-Bereich zu einem der etabliertesten Schlagzeugern und ist neben My Name is George und seiner Hamburg-Kollaboration Pixie Paris momentan mit Sina, Baschi und Adrian Stern unterwegs. Daniel Gisler haut abgesehen von My Name is George und Hecht unter anderem auch noch bei Tobey Lucas, Paul das Pausenbrot, Biggles und Annakin in die Tasten.
Hier leben ist erschwinglicher
«Ganz ehrlich, eigentlich wird mir dies erst jetzt, wo ich so darüber nachdenke bewusst, aber es ist schon auffällig, wie viele Berufsmusiker in Winterthur leben», sagt Matthias. Vielleicht, so der Drummer, habe Winterthurs Vergangenheit als Arbeiterstadt einen Einfluss. Daniel sieht einen möglichen Faktor in den Lebenskosten: «Musiker gehören nicht zu den Grossverdienern, da ist für viele ein Leben in Winterthur erschwinglicher als in Zürich.» Sowohl Daniel wie auch Matthias sehen jedoch das Winterthurer Netzwerk als wichtigen Faktor: «Ich sehe es als eine Art Kettenreaktion: Ein Winterthurer Musiker, der bei einem Projekt mitspielt, empfiehlt vielleicht einen anderen Winterthurer Musiker und so weiter», sagt Daniel.
Auch Roman Weissert streicht das Winterthurer Netzwerk hervor: «Das ist halt ein Dorf, hier kennt und unterstützt man sich.» Treffpunkte wie eine Zeit lang die Jams im «Loops-Bandraum» auf dem Lagerplatz-Areal hätten dieses Netzwerk zusätzlich gefördert. Sein Engagement bei Polo Hofer sei dadurch entstanden, dass ein Winterthurer Musikerfreund schon dort gespielt habe, erzählt Weissert und ist überzeugt, dass dies heute nicht anders ist: «Sucht jemand einen guten Gitarristen, so kann ich mit gutem Gewissen einige junge Talente aus Winterthur empfehlen.»
Drei Säulen
Weiterempfehlen, weiterempfohlen werden, neue Menschen mit neuen Ideen kennen lernen, neue Projekte anreissen: Im Musikbusiness läuft alles über den persönlichen Kontakt. Vitamin B ist aber kein Selbstläufer. Das Leben eines Musiksöldners scheint stressig. Es braucht Flexibilität und ein grosses Mass an Organisationstalent, um all die Termine unter einen Hut zu bringen. Dafür ist man sein eigener Chef und kann sich breitgefächert ausleben. Die Umstellung vom einen zum anderen Projekt ist gross, da oftmals verschiedene Welten aufeinandertreffen. «Es ist zwar nicht einfach, aber dafür umso interessanter», sagt Matthias Kräutli.
Trotz der schönen Worte ist aber auch klar, dass die Musikerinnen und Musiker ihre Brötchen verdienen müssen. Und ebenso klar ist, dass es von diesen Brötchen im Schweizer Musikbusiness nicht gerade im Überfluss hat. Die Bezahlung von Auftritten schwankt – von Null bis vielleicht etwa 500 Franken. Und beim heutigen Gagen-Druck bleibt bei fünf oder mehr Musikerinnen und Musikern bei einem Auftritt manchmal nicht mehr viel übrig. Viele Musiksöldner arbeiten deshalb nebenbei als Musiklehrerin oder -lehrer oder gehen einem sonstigen Zweitjob nach. Matthias Kräutli verdient sein Geld vollständig als Musiker. Wie er die Gigs und Projekte auswählt, hat er ein eigenes Prinzip entwickelt: das Drei-Säulen-Prinzip. «Es gibt drei Säulen: Geld, Musik, Menschen. Zwei von diesen Säulen müssen passen, damit ein Engagement zum Tragen kommt.» Roman Weissert pflichtet dem bei: «Ich hab mal mit Adrian Stern gespielt. Seine Musik würde ich wohl zu Hause nicht die ganze Zeit hören. Aber es ist einfach eine verdammt guter Musiker und ein feiner Mensch.»
Im Winterthurer Netz
Winterthur hat die Söldner lange auf ihrem musikalischen Werdegang begleitet und tut dies wohl noch heute. Bereits die ältere Garde hatte die Möglichkeit in vielen kleinen Winterthurer Clubs zu jammen. Solche Konzertreihen waren und sind besonders für junge Bands von grosser Bedeutung.
Einige mögen glauben, dass diese Zeiten vorbei sind und die Winterthurer Musikszene an Kraft und Ausstrahlung eingebüsst hat. «Winterthur ist ein guter Nährboden», widerspricht hingegen Jonas Wolf und auch Beda Mächler findet: «Diese Szene hier ist ein wunderbares Sprungbrett mit vielen Möglichkeiten. Wenn man sich engagiert, kommt man schnell hinein und lernt den ganzen Betrieb kennen.» Bereits mit neunzehn Jahren stand er auf den Bühnen der Musikfestwochen in Winterthur. Auch die Band Neckless, zu deren Mitgliedern neben Beda Mächler (kam erst später dazu) auch die Bassistin Vanja Vukelic zählt, kam aufgrund der funktionierenden Musikszene aus der Ostschweiz nach Winterthur. «Die Szene ist relativ gross und es läuft viel. Man ist neuen Musikern gegenüber extrem offen», sagt Vanja.
Die ZHdK wird wichtiger
Trotzt so viel Lob für Winti: Bei der Musik an der Stadtgrenze halt zu machen, macht für die Musiksöldnern keinen Sinn. «Die Herkunft von potenziellen Bandmitgliedern ist kein Auswahlkriterium», sagt Beda Mächler. Es sei gar nicht möglich sich als Musiksöldner lediglich auf Winterthur zu beschränken. Vanja Vukelic zieht es sogar ins Ausland. Wenn ein passendes Angebot käme, würde sie sofort ihre Koffer packen und gehen.
Vanja und Beda studieren beide Pop an der ZHdK. Überhaupt ist es auffällig, wie viele junge Winterthurer Musikerinnen und Musiker an der Zürcher Hochschule der Künste studieren. Auch Jonas Wolf hat an der ZHdK vor einem Jahr seinen Abschluss gemacht und unterrichtet heute dort. Seit 2006 bietet die Hochschule hier den schweizweit einzigen Pop-Studiengang an. Eine neues Gefäss, das auch die Musikszene zu ändern scheint: Während die Musiksöldner der älteren Garde ihre Ausbildung noch im Ausland zusammenstellen lassen mussten und in erster Linie auf das lokale Musikernetz setzten, rücken hier die Musiker näher zusammen. «An der ZHdK macht man neue Bekanntschaften und man vernetzt sich», sagt Beda Mächler. Die ZHdK sei ein Kanal, um grossräumiger zu denken. Auch Matthias Kräutli sieht in den Abgängern grosses Potential: «Ehemalige Studierende der ZHdK etablieren sich erstaunlich schnell in der Schweizer Musikszene. Sie sind zuverlässig und fit auf ihren Instrumenten.»
Durchaus möglich also, dass das Winterthurer Musiksöldner-Spielkarten-Set in den nächsten Jahren noch um einige talentierte Musikerinnen und Musiker anwachsen wird.