«Ein seltsamer Widerspruch»

Der Raum: beige Wände, braune Sockelleisten aus Holz. Das Licht kommt von Oberlichtfenstern. An der Wand hängen Bilder von Künstlern der Moderne: Pablo Picasso, Laszlo Moholy-Nagy, Max Ernst, Sophie Taeuber-Arp. Ich sitze in der Mitte des Raumes, um mich herum stehen auf Sockeln Skulpturen des Künstlers Hans Arp. Es ist still im Raum. Nur Schritte auf dem grauen Teppich, ein Räuspern und das Klappern der Laptoptastatur sind zu hören.

Ich sitze also da in diesem Raum, der die Kunst der Moderne und die Aufbruchszeit nach dem 1. Weltkrieg repräsentiert und denke über diesen Ort nach: das Kunstmuseum Winterthur. 1916 gebaut von einer Reihe von Privatpersonen in einer Kleinstadt, die damals gerade mal 20'000 Einwohner hatte. Hätten diese – gemeint sind der Textilindustrielle Richard Bühler, Architekt Robert Rittmeyer, Arzt Arthur Hahnloser und Kaufmann Georg Reinhart – nicht beschlossen, ein Museum zu bauen, sähe Winterthur heute ganz anders aus, sagt mir Dieter Schwarz, der Direktor des Kunstmuseums, im Interview zuvor: «Motiviert von einer sehr protestantischen und idealistischen Vorstellung von Volksbildung, wollten sie den Winterthurerinnen und Winterthurern ein Gebäude für Kunst und Wissenschaft bauen und ihnen den Zugang zur Stadtbibliothek und den naturwissenschaftlichen Sammlungen wie auch den schönen Künsten ermöglichen», erzählt Schwarz. Eine Idee, die ganz der Definition eines Museums entspricht, wie sie Mitte des 19. Jahrhunderts aufkam: «Ein Ort, wo man zusammenkommt und sich mit den Wissenschaften und den schönen Künsten beschäftigt.»

 

Spiegel des Zeitgeistes

Und heute? Wo steht das Kunstmuseum hundert Jahre später? Die Architektur im Innern des Altbaus hat sich seit 1916 nicht stark verändert. An den Wänden hängt hauptsächlich Kunst, die von Winterthurer Handelsfamilien gesammelt und später dem 1848 gegründeten Kunstverein vermacht wurde. In den ersten Räumen entdecke ich vor allem Namen französischer Impressionisten, darunter Claude Monet, Pierre Bonnard, Félix Vallotton oder Édouard Vuillard, aber auch den Niederländer Vincent van Gogh. Im Grafikkabinett waren anfangs Jahr unter dem Titel «Von Eugène Delacroix bis Giovanni Giacometti» Zeichnungen ausgestellt, darunter zahlreiche, die Richard Bühler in den 1910er-Jahren sammelte und die von seinen Nachfahren vor kurzem dem Kunstmuseum geschenkt wurden. Die Schenkung war der Anlass für die Ausstellung, die auch als Auftakt zum Jubiläumsjahr funktionierte, weil sie den Zeitgeschmack Anfang des 20. Jahrhunderts, das Interesse an Frankreich und an den damals neuen Schweizer Künstlern wie Ferdinand Hodler und Giacometti spiegelte. «Das war das, was die Leute damals begeisterte», sagt Dieter Schwarz. Nicht nur in Winterthur, auch in Berlin, München, Solothurn und anderen kleineren Schweizer Städten. Der Dadaismus, der 1916 in Zürich aufkam, der Kubismus oder die Avantgarde sei frühestens Ende der 1920er-Jahre wahrgenommen worden. Dank dem Legat von Clara und Emil Friedrich-Jezler erhielt das Kunstmuseum 1973 eine der bedeutenden frühen Schweizer Sammlungen von Kunst der Klassischen Moderne, so dass heute in über drei Sälen die wichtigsten Etappen vom Kubismus bis zur Abstraktion präsentiert werden können. Im Raum zur Kunst der Nachkriegszeit stehen, neben einer Werkgruppe von Alberto Giacometti, Werke von italienischen Künstlern wie Giorgio Morandi und Lucio Fontana im Mittelpunkt. Der Ergänzungsbau – ein Provisorium, das privat vom Kunstverein finanziert und 1995 auf öffentlichem Grund eröffnet wurde, weil das von der Stadt erarbeitete Museumskonzept 1992 an der Urne scheiterte – bietet Platz für wechselnde Ausstellungen von sowohl etablierten als auch (noch) unbekannten, zeitgenössischen Kunstschaffenden.

 

Konsequent und auf hohem Niveau

Es ist in der Schweiz eine der grössten und vor allem qualitativ hochstehenden Sammlungen mit grosser Bedeutung, zu der das Kunstmuseum dank diverser Schenkungen kam. Und sie wächst weiter.  Neben den existierenden Schwerpunkten auf dem Nachimpressionismus und der klassischen Moderne, hat Dieter Schwarz seit 1990 eine repräsentative Gruppe amerikanischer Kunst aus den 1970er-Jahren bis in die Gegenwart aufgebaut, die einen starken Bezug zur französischen Malerei hat. Zudem hat er auch einen Fokus auf italienische Kunst der 1950er- und 60er-Jahre wie auch «Arte Povera» – arme Kunst – gelegt.

Konsequent ist sie, die Linie, die das Kunstmuseum in seiner Sammeltätigkeit verfolgt. Anspruchsvoll. Und von hoher Qualität. Dieter Schwarz leitet das Museum seit 26 Jahren und hat dem Haus ein klares Profil verliehen. «Mit einer Sammlung, in der Werke von Monet und Bonnard sind, muss man das Niveau hoch halten», sagt Dieter Schwarz. Das Kunstmuseum Winterthur grenzt sich bewusst von anderen Häusern in der Schweiz ab. «Es macht ja keinen Sinn, nochmals dasselbe auszustellen, was man in anderen Museen ebenfalls sehen kann. Wir haben versucht, Künstlerinnen und Künstler zu sammeln und auszustellen, die nicht schon in Zürich oder Basel präsent sind. Gerade weil die Schweiz klein ist, ist es wichtig, dass man sich nicht wiederholt.» Der Fokus: Bildende Kunst, Zeichnungen und Plastiken. Hier in Winterthur gibt es eine der grössten Morandi-Sammlungen sowie mehr Werke von Bonnard und Vuillard zu sehen als sonstwo. «Auch in der Gegenwart soll die Sammlung deshalb möglichst profiliert sein. Eine kleine Version von Zürich zu werden – das wäre fad», gibt Dieter Schwarz zu bedenken. Installationen, Video-Arbeiten und Fotografie sucht man hier vergebens. Arbeiten mit solchen Medien gibt es wenn, dann nur  jeweils an der Dezember-Ausstellung zu sehen, wo Kunstschaffende aus der Region Winterthur ausstellen. Die Gründe: In Winterthur setzt sich das Fotozentrum bereits mit Fotografie und Video-Arbeiten auseinander. «Video-Arbeiten zu sammeln, ist zudem ein sehr teures und anspruchsvolles Gebiet. Man muss sich fragen, wie man diese ausstellen und aufbewahren kann», sagt Dieter Schwarz. Um altes Material zu digitalisieren, müsse das Kunstmuseum zuerst die notwendige Infrastruktur beschaffen. Zudem eignen sich die Räume im Kunstmuseum nicht, um Video-Arbeiten auszustellen. Die Räume mit Oberlicht sind für das Ausstellen von Bildern und Skulpturen gemacht. «Es wäre schade, sie abzudunkeln.»

Ich stelle mir vor, wie es wäre, nachts im Kunstmuseum zu sein und den Skulpturen von Hans Arp auf neue Art und Weise zu begegnen. Welche Formen in den Schatten der Plastiken zu entdecken wären, welcher neue Blick auf die Kunst des Künstlers der klassischen Moderne ermöglicht würde. Im Ergänzungsbau sind bis am 22. Mai weitere Arbeiten von Hans Arp ausgestellt; jedoch nicht vom Dadaismus inspirierte Arbeiten, wie sie zurzeit überall zu sehen sind. Es ist die reife und die spätere Schaffensphase des Künstlers, die das Kunstmuseum hier in den Blick nimmt. Die Ausstellung steht zudem im Dialog mit zwei zeitgenössischen Künstlern: Das Spätwerk des Engländers William Tucker bildet ein authentisches Gegenstück zu Hans Arps modellierten Skulpturen. Der Amerikaner Richard Tuttle greift den Gedanken auf, dass Arp nicht nur Bildhauer sondern auch Dichter war, und dass in seinem Werk Sprache und Skulptur miteinander verbunden sind. Dieses Thema bearbeitet Richard Tuttle in einem Alphabet mit dem Titel «kallirrroos», was auf Griechisch «schön fliessend» bedeutet. Man braucht Zeit, um zu verstehen, um zu erahnen, was die Aussage sein könnte.

 

Sich überfordern lassen

«Man muss die Bereitschaft mitbringen, sich überfordern zu lassen», sagt Dieter Schwarz auf die Frage, ob die Ausstellungen im Kunstmuseum nicht etwas zu elitär sind. «Man lernt mit der Zeit, einen Künstler zu verstehen.» Manchmal muss man ein zweites oder drittes Mal die Ausstellung besuchen, bis sich ein Werk einem entschlüsselt. Auch den Kunstkennern geht das so.

Während in den letzten Jahren auf der Welt eine Vielzahl von neuen Museumsbauten entstanden, die es ermöglichen, das Museum als Institution weiter und neu zu denken, beruft sich das Kunstmuseum ganz auf die traditionelle Sichtweise, was die Aufgabe eines Museums sein soll. Hier gibt es keine Spektakel zu sehen. Hier gibt es nichts lautes, nichts schnelles, nichts hektisches. Es ist ein Ort der stillen Auseinandersetzung mit den schönen Künsten. «Es gibt ein Publikum, das etwas anderes als das Spektakel sucht. Diese Nische ist da und kann auch noch wachsen», gibt Dieter Schwarz zu bedenken. «Zudem wird die Publikumsschicht der reiferen und älteren Besucherinnen und Besucher immer grösser. Angesprochen werden diejenigen, die nicht nur das mondäne, schnelle und glitzrige wollen, sondern sich mit Themen vertiefen und qualitativ Gutes sehen wollen.» Es gebe ein Substrat von Leuten, die Geld und Zeit haben, gerne reisen und sich Museen ansehen. «Das Problem, mit dem das Römerholz ebenso konfrontiert ist wie das Kunstmuseum, ist vielmehr die Frage, wie diese Leute nach Winterthur kommen.»

 

Ein Raum voller Energie

Ein Museum ist nie ein neutraler, von der Natur aus gegebener Raum, sondern immer ein Konstrukt. Ein Ort der Inszenierung. Das Kunstmuseum erscheint von aussen betrachtet als Ort für die reife, ältere Generation. Dabei hätte dieser Ort sehr viel Potential, denke ich mir, während ich auf dem grauen, kalten Betonboden des Ergänzungsbaus sitze. Die Wände sind weiss gestrichen. Es gibt keine Einfassungen, keine Lichtschalter, dafür Steckdosen am Boden. Das Licht kommt durch die Sheddächer. Ein grosses Fenster erlaubt eine Orientierung nach Draussen. Neben mir stehen Skulpturen von William Tucker. Fäuste, die auf den Boden einhämmern. Laut und dumpf. Mit einer Wucht, die den Boden vibrieren lässt. Der Raum ist voller Energie. Ich stelle mir vor, wie es wäre, am Jubiläumsfest am 21. Mai durch diesen Ausstellungsraum zu tanzen, um diese eindrücklichen Skulpturen herum.  Zur Musik von Schlagzeuger Julian Sartorius, der an dem Abend ein Live-Set spielen soll.

«Nein, man wird nicht dort tanzen können, wo die Bilder sind – aus Respekt vor der Kunst», sagt Dieter Schwarz. Dennoch: Das Kunstmuseum soll an diesem Wochenende  zum Festplatz werden. «Am Freitagabend gibt es einen Festakt. Am Samstag wollen wir der Bevölkerung von Winterthur zeigen, dass das Kunstmuseum da ist. An verschiedenen Orten gibt es Aktivitäten für Kinder, vom Theater Katerland und anderen, und im Innenhof Musik, die ein jüngeres Publikum anspricht.» Es gibt sogar eine Disco. Das Kunstmuseum scheint sich von seinem elitären Image befreien zu wollen. Und gerade weil das Museum als Institution Teil einer Öffentlichkeit und von Kultureinrichtungen ist, die einer sich wandelnden Gesellschaft unterworfen sind, würde es der Institution gut tun, wenn es sich nicht vor dem Zeitgeist des 21. Jahrhunderts verschliesst und sich auch einer jungen Generation öffnet. Denn auch das Kunstmuseum ist gezwungen, ökonomisch zu handeln und mehr als nur 20'000 Besucherinnen und Besucher pro Jahr anzulocken, wie das in den letzten Jahren der Fall war. Für den Betrieb benötigt das Kunstmuseum pro Jahr ein Budget von rund 2 Millionen; 1,2 Millionen davon sind Subventionen der Stadt und dem Kanton, 800'000 Franken – also rund 40 Prozent – werden selbst erwirtschaftet. Das Haus wird von der Stadt Winterthur zur Verfügung gestellt.

 

«Ein seltsamer Widerspruch»

Das Kunstmuseum hat eine eigenartige, hybride Position in der Museumslandschaft: Im Vergleich zur Sammlung mit internationalem Renommee, ist das Haus finanziell schwach aufgestellt und hat wenig personelle Ressourcen. «Ein seltsamer Widerspruch», wie Dieter Schwarz betont. «Vor den Kulissen zeigt das Kunstmuseum das Niveau eines internationalen Museums, hinter den Kulissen müssten die Strukturen allerdings noch auf das gleiche Niveau gebracht werden.» Zum Vergleich: Das Kunsthaus Aarau hat 1000 Quadratmeter mehr Ausstellungsfläche. Das Kunstmuseum Winterthur agiert also auf kleinem Raum. Und es fehlen die finanziellen Mittel, um bei der Werbung ebenso präsent zu sein wie andere Museen in der Schweiz. «Manchmal lassen sich auch mit wenig Geld hervorragende Ausstellungen realisieren. Werke aus privaten Sammlungen zu zeigen ist zum Beispiel kostengünstiger als diese von anderen Museen auszuleihen», sagt Dieter Schwarz. Zudem helfen dem Museumsdirektor auch persönliche Beziehungen, Ausstellungen zu realisieren, die sonst nicht möglich wären: Die Ausstellung von Gerhard Richter, mit dem der Direktor gut befreundet ist, war 2014 ein Publikumsmagnet und lockte über 40'000 Besucherinnen und Besucher an. Mit  Thomas Schütte, der dem Kunstmuseum zum 100-Jahre-Jubiläum eine Edition von Grafiken schenkt, die das Museum verkaufen wird, pflegt Dieter Schwarz regelmässig Kontakt. Oder auch zu Matt Mullican, dem das Kunstmuseum von Juni bis Oktober eine Einzelausstellung widmet.

Bereits der Vorstand des Kunstvereins, in dem vor allem die Handelsfamilien vertreten waren, pflegte vor 100 Jahren regen Kontakt mit Künstlern. Dass dies nun Aufgabe des Direktors ist, zeigt, wie sehr sich das Haus in den letzten Jahrzehnten professionalisiert hat. Aber auch, wie stark Dieter Schwarz das Haus und die Sammlung geprägt hat. 2017 geht der langjährige Direktor in Pension. Das heisst, es gibt eine Zäsur in der Geschichte des Kunstmuseums. Durch den Zusammenschluss mit dem  Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten gibt es einen weiteren Bruch in der Geschichte, weil der Kunstverein dann für zwei Museen verantwortlich ist. «Der neue Direktor, die neue Direktorin wird sicher nicht das gleiche machen wie ich. Nur schon, weil er oder sie die Sammlung neu denken und sich überlegen muss, wie sich die beiden Häuser miteinander verbinden lassen», sagt Dieter Schwarz. Und: «Im nächsten Jahrzehnt wird aber sicher Thema sein, wie das Haus wachsen und mehr Ausstellungsfläche erhalten kann. In einer Stadt, die zu wenig Geld hat, waren solche Diskussionen bisher nicht einfach.» Es sei ein glücklicher Zufall, dass in dem Moment, in dem er gehe, die Nachfolgerin oder der Nachfolger etwas Neues zu bewältigen habe, sagt Dieter Schwarz. Bis das Neue kommt, entdeckt man aber am besten das Alte aus einer neuen Perspektive.

 

100-Jahre-Kunstmuseum

Freitag, 20. Mai, Festakt um 18 Uhr

Samstag, 14 bis 02 Uhr, mit Essen,

Aktivitäten für Kinder,

Kurzgeschichtenparcours,

Musik von Christoph Gallio mit

Day und Taxi oder Julian Sartorius.

Sonntag, 22. Mai

Internationaler Tag des Museums

Öffentliche Führung mit Franca Bernhart

 

 

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