«Ach so. Heute ist also der Szeni-Abend.»

«Ach so. Heute ist also der Szeni-Abend.»

Es ist Samstag, später Nachmittag. 30 Grad. Die Glaces in unseren Händen kapitulieren, beginnen auf den letzten Metern zu tropfen – Limone-Minze breitet sich aus auf Händen, Fahrradlenkern, Handys. Cool. Ok. Gehört dazu.

Bevor wir zu den heutigen MFW-Konzerten aufbrechen, liefern wir noch schnell die Reisetasche einer Kollegin, die aus Biel, dem Winterthur Berns, angereist ist, bei mir daheim ab. Mhm, die schönsten zwölf Tage locken die Menschen aus allen Gegenden her. Wir kommen am Tennisplatz an der Seidenstrasse vorbei. Hinter der grünen Umzäunung applaudierts, ooohts, aaahts. Welche sportlichen Leistungen dort vollbracht werden, können wir nicht erkennen, lediglich ein paar strahlend weisse Pavillons, die auf der Wiese verteilt sind. Einige Stimmen beginnen zu singen, Freude schwappt über Zäune und strategisch platzierte Gebüsche und Bäume. In einem kurzen Moment unreflektierter Glückseligkeit – Musikfestwochen! Samstagabend! Besuch! Sommer! Glace! – glaube ich, dass die Pavillons auf dem Tennisplatz etwas mit den MFW zu tun haben. Mit dem rasch sinkenden Zuckerspiegel vergeht auch dieser Moment, und mir fällt ein, wo ich bin, und ich merke, dass es Zeit ist, sich schleunigst zum Roulotte zu begeben. Dort liest, organisiert von Lauschig, um 18:00 Uhr Jessica Jurassica, «sogenannti Autorin. Eich au Musikerin.», wie sie sich selbst beschreibt. Und führt aus – Musik sei ein extrovertiertes Medium, das Schreiben gehe eher nach innen. Beides habe für sie aber die gleiche Intensität. Auf die Frage, warum sie als Autorin auftritt, antwortet sie sec: «Vor allem wegen dem Cash.» Als Autorin verdiene man in der Regel besser als als Musikerin. Allerdings sei man vor dem ersten Buch keine richtige Autorin, oder werde zumindest oftmals nicht als solche wahrgenommen. «Das Ideal des Kaputten», ihr erstes Buch, ist im Frühling erschienen, aber heutzutage verdienen Autor*innen ihr Geld nicht unbedingt mit dem Verkauf von Büchern, sondern eher mit Lesungen. 


Woran lässt sich eine Lesung erkennen? Nun, der Altersdurchschnitt des Publikums ist ein guter Anfang – in der Regel eher hoch, mit einzelnen Ausreissern nach unten und einem Cluster dort, wo sich das Alter der jeweiligen Autor*in ansiedeln lässt. Ebenfalls gibt es, wie immer, wenn es kurzzeitig, zwangsläufig, um eine einzelne Person geht, eine Art Bühnensituation: Dort die Bühne denen, die lesen, hier die Bänke und Stühle denen, die zuhören. Des Weiteren kann ein Blick auf die Getränkewahl des Publikums aufschlussreich sein: Weisswein (in Gläsern, nach Wahl süss oder sauer gespritzt), Bier (in Flaschen), kleine Drinks (ohne Papierschirmchen etc). Für die Autorin gibt es ein Glas Wasser – welche von diesem Gebrauch macht, mehrmals. Die Stimme kratzt: Raucherhusten. (Siehe Buchcover.) Jessica verabschiedet sich kurz von der Bühne mit einem Satz, dessen Nonchalance ich nur bewundern kann und den ich mir aufschreiben möchte, als eine Erinnerung daran, dass sich das Leben manchmal sehr einfach gestalten lässt: «Ich muss kurz unterbrechen, meine Stimme streikt heute, und ich kann fast nicht atmen, kann ich bitte einen Prosecco im Backstage haben?» Nach einer kurzen Pause, die gerade so lange ist, dass das sich selbst überlassene Publikum sich doch noch zu fragen beginnt, was es mit den Topfpflanzen auf der Bühne auf sich hat, kehrt Jessica Jurassica zurück, in Begleitung von DJ Katheter, welcher die restlichen Passagen aus dem Buch liest, während die Autorin rauchend daneben sitzt und bei Nachfrage mit der Aussprache hilft.

Auch wenn ich seit einer Weile versuche, Texte, Veranstaltungen und Personen – insbesondere jene, die ich auf einer Bühne sehe – nicht mit dem Begriff «authentisch» zu versehen, drängelt sich dieses Wort immer wieder in meine Sätze. Die Lesung hat etwas Formelles an sich, aber gleichzeitig auch etwas sehr Entspanntes, Befreites. Trotz Sturmmaske und einem goldglänzenden Traineranzug wirkt Jessica Jurassica auf der Bühne weniger inszeniert als viele der Autor*innenlesungen, die ich in den letzten Jahren besucht habe. Zugleich frage ich mich wieder einmal aufs Neue, für wen Lesungen eigentlich organisiert werden, wem das nützt und wem es hilft, und was das eigentlich alles soll, und warum es so ist, wie es ist, und ob es denn nicht anders sein könnte, und falls ja, wie? Bevor sich mein Hirn in die Sinnlosigkeit verabschiedet, werde ich daran erinnert, dass es noch anderes gibt. Zum Beispiel den Rychenbergpark und seine heutigen Konzerte, von denen ich lediglich mitgeschnitten habe, dass es ein paar Änderungen gegeben hat, Molchat Doma aber nicht zu den Bands gehören, die ihren Auftritt aus irgendwelchen Gründen absagen mussten – was mein slavisches Herz höher schlagen lässt. Auf den Einlass wartend kommen wir in den Genuss von ein paar dunklen Klängen, die von der Startrampe herkommen – Thymian aus Zürich stimmen uns in den Rest des Abends ein.

Die massgebende Musikrichtung des Abends lässt sich heute sehr am Erscheinungsbild der Besucher*innen ablesen: Da gibts Shirts von The Soft Moon, Joy Division, Black Flag, Nine Inch Nails, Nirvana, Joy Division, Molchat Doma, The Velvet Underground, Joy Division … Die Goth-pro-Quadratmeter-Rate: hoch. Nicht so stark vertreten, aber dennoch anwesend: Skinheads.

Sirens of Lesbos, die als zweitletzte Band des Abends spielen, schweifen genremässig mit ihrem groovigen Melodien ein wenig ab, bringen die Leute aber dennoch en masse zum Tanzen. (Okay, ich muss zugeben, ein einziges Mal verlasse ich das Konzert, weil ich ein Lied kurzzeitig es biz zu fröhlich finde.) Und dann. Dann! Spielen endlich Molchat Doma, und ich weiss nicht, irgendwelche sehr grossen Gefühle scheinen im Publikum ausgelöst zu werden. Während ich jetzt noch versuche, aus meinem müden Hirn ein paar Worte zu Moshpits und der freudigen Zelebration der Selbstzerstörung zu wringen, machen sich die ersten blauen Flecken auf meinen Beinen bemerkbar. Zwischen den letzten Synthieechoes klingen in meinem Kopf auch die Gespräche der letzten paar Stunden nach: Es ging um Inszenierungen und Authentizität, um die Zwänge der Form, um die Nachahmung, um die Erwartungshaltung des Publikums, um Tennis und Fred Perry, um die Aneignung von Symbolen, um Ambiguität, um meine liebsten Orte in Winterthur. Dazwischen fällt mir ein, dass «Molchat Doma» sich mit «schweigende Häuser» übersetzen lässt, und ich bin sicher, dass es da noch mehr zu sagen gäbe. Der Weg nach Hause führt wieder durch die Seidenstrasse, an Villen und Blutbuchen, Geistern in Katzenform und schweigenden Tennisplätzen vorbei. 

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