Buchstaben, die von der Decke fallen

Buchstaben, die von der Decke fallen

Es gibt Kunst im öffentlichen Raum, die schwer zu finden ist. Die entweder nur zufällig entdeckt oder aber sehr bewusst aufgesucht und bestaunt wird.

Beim Kunstwerk, von dem dieser Text handelt, wird dies kaum der Fall sein. Die meisten Winterthurer*innen haben es wohl schon mal ins Auge gefasst – auf der Suche nach Reiseliteratur, einem spannenden Roman oder einer wissenschaftlichen Publikation.

 

Die Stadtbibliothek am Kirchplatz Winterthur geniesst ein hohes Besucher*innenaufkommen. Sie ist Durchgangs- und Verweilort zugleich; ein Ort der Suche, Recherche, Weiterbildung und Unterhaltung. Nebst Tausenden von Büchern vermittelt sie vor allem auch durch ihren Standort, inmitten mittelalterlicher Mauern, eine spezielle Atmosphäre. 2001 erst wurden die ehemaligen Wohn- und Lagerhäuser «Blumengarten» und «Tösserhaus» in einer mehrjährigen Phase zur jetzigen Altstadt-Bibliothek umgebaut. Heute zählt diese mit ihren acht Stockwerken zu einer der grössten Freihandbibliotheken der Schweiz. Der Weg dahin war jedoch steinig und lang: Die beiden vom Zerfall bedrohten Bauten mussten vorab archäologisch untersucht werden – wobei der «Blumengarten» aus dem Jahre 1197 als ältestes datiertes Steinhaus der Stadt bestimmt werden konnte. Die darauffolgende Umgestaltung erwies sich als bautechnische und denkmalpflegerische Herausforderung. Im Juli 2003 wurde die Stadtbibliothek schliesslich eröffnet.

 

Eine künstlerische Intervention darf in einem so geschichtsträchtigen und öffentlichen Gebäude nicht fehlen. Die Stadt beauftragte dafür den Zürcher Künstler Pierre Haubensak, der auf den Ort und dessen neue Funktion auf präsente und gleichzeitig dezente Weise reagieren sollte – mit Erfolg: Sich vertikal auf 21 Metern Höhe über alle Etagen des «Tösserhauses» ausdehnend, fordern Buchstaben des gesamten ABCs die Betrachtenden bereits im Treppenhaus zum Lesen auf. Aus Buchstaben werden Wörter, aus Wörtern ein gänzlicher Wortwasserfall: GESCHICHTEN – DICHTEN – STIMMEN – RAUSCHEN – LAUSCHEN und so fort.

 

Übrigens gibt es auch im «Blumengarten» eine malerische Arbeit Haubensaks zu finden. Das Hinweiswort hier ist NETZ. Und wer schon mal den Weg in die Zentralbibliothek Zürich gefunden hat, kam vielleicht auch dort in den Genuss einer öffentlichen Arbeit des Künstlers: ein 50 Meter (!) langer Wandfries im Lesesaal.

Zur Autorin: Franca Bernhart hat Kunstgeschichte studiert. Sie arbeitet am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft und ist Co-Präsidentin der oxyd – Kunsträume.

Bild: Jonas Reolon ist freischaffender Kameramann und Fotograf.

Stahlplatten des Trostes
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