Sich dem Kolumbarium nähernd, wird klar, dass es sich um einen Mann handelt. Die Hände auf der Brust und die eingeklappten Arme ausgefahren, hat sein Umriss die Form eines Kreuzes. Der Mann blickt in Richtung Haupteingang und es scheint, als ob er die Besuchenden bereits erwartet. Unter seinen Beinen kommt eine Frauenfigur hervor und reckt ihren Oberkörper in die Höhe. Ihre Arme hält sie an ihrem Körper anliegend, wodurch sie an eine Galionsfigur erinnert. Doch wohin steuert sie? Die Frauenfigur schaut zur rechten Seite und weist uns mit ihrem Blick den Weg. Wenn man diesem folgt, sind farbige Windräder, Engelfigürchen und dazwischen viele kleine Schildchen zu sehen – Kindergräber. Es macht den Eindruck, als fungiere die Frau aus Stein nicht nur als Wegweiserin, sondern auch als Wächterin: Sie hat das Kreuz dicht hinter sich und einen immerwährenden Blick auf die Kindergräber.
Es scheint, als ob die Skulptur bereits seit Jahrzehnten über die Gräber wacht. Grund dafür ist der verwitterte und überwucherte Zustand der Figuren. Beide kleiden sich mit Moos ein, wobei sich die Rückseite der Männerfigur zusätzlich mit Efeu schmückt. Tatsächlich stehen die beiden bereits seit 42 Jahren an diesem Ort. Die runde und detailarme Form verstärkt den Eindruck der Abnutzung durch die Zeit, hat jedoch nichts damit zu tun, sondern ist auf die Arbeitsweise des Künstlers Arnold D’Altri zurückzuführen: D’Altri wendet sich von der naturalistischen Bildhauerei ab und nähert sich der Grenze des Abstrakten. Somit ist die anatomische Korrektheit nicht Zentrum des Werks. Die groben Züge und die vermeintlich unvollendete Erscheinung sind eine gewollt abstrakte Gestaltungsform.
Die Arbeitsweise D’Altris passt wunderbar auf die leicht überwucherte Wiese des Friedhofs. Der Eindruck des jahrelangen Verweilens wird mit dem beständigen Material des Steins unterstützt: Das Figurenpaar ist standhaft und robust, trotz scheinbarer Abnutzung. So können die beiden noch weitere Jahrzehnte über diesen Ort wachen.
Chelsea Angel Neuweiler studiert Kunstgeschichte und Germanistik an der Universtität Zürich.
Jonas Reolon ist Fotograf und Kameramann aus Winterthur.