Was bleibt, wenn die «Gisi» bleibt?

Was bleibt, wenn die «Gisi» bleibt?

Mit der Ankündigung, dass die «Gisi», eine der ältesten Hausbesetzungen der Schweiz, im Frühling 2026 geräumt werden soll, geht eine Ära zu Ende. Sebastian Galli hat das wahrscheinlich letzte Hausfest besucht und mit Bewohner*innen sowie Hausfest-Besucher*innen über den Ort gesprochen, der sozial und kulturell so viel mehr ist als nur einfach ein «sanierungsbedürftiges Gebäude».

 

Am 26. August gab die Terresta Immobilien- und Verwaltungs AG bekannt, dass sie das Baugesuch für die Renovation der Genereal-Guisanstrasse 31 eingegeben hat. Das Haus ist Eigentum der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG). Unter dem Projektnamen «Plantane» will die SKKG die Liegenschaft renovieren. Soweit unspektakulär, solche Gesuche gehen bei der Stadt tagtäglich ein. Zumindest wäre es das, wenn sich bei diesem Gebäude nicht um die «Gisi» handeln würde – die älteste Besetzung der Stadt und eine der ältesten der Schweiz. Seit 1997 wird das Haus selbstverwaltet bewohnt.

 

Am letzten Wochenende im August feierte die Gisi – vielleicht zum letzten Mal – das jährliche zweitägige Hausfest. Ich habe diese Gelegenheit genutzt, um mir einen Eindruck von dieser Besetzung zu machen. Über die Neustadtgasse komme ich zum Innenhof, in dem der Eingang zum Haus liegt, das der inzwischen verstorbene Immobilienbesitzer und Kunstsammler Bruno Stefanini einst gekauft hat. Dort treffe ich auf eine bunte Menschenmenge in ausgelassener Stimmung. An den selbstgebauten Toitois vorbei geht es zur Tür. Das Stefanini-Haus ist äusserlich ein bisschen in die Jahre gekommen. Der Verputz bröckelt, vom ursprünglichen Anstrich der Mauern ist nicht mehr viel übrig. Stattdessen prangen am Mauerwerk farbenfrohe Graffitis mit politischen Parolen. Von bunten Lichtern beleuchtet, hängt ein Transparent an der besprühten Fassade: «Terresta enteignen! Platane? Niemert wöt das!» Und unter diesem Schriftzug, ein Herz mit zwei simplen Worten: «Gisi bleibt».

 

Das Hausfest wird von zwei Kollektiven organisiert: dem Wohnkollektiv der Bewohner*innen und dem Kulturkollektiv «Subcultura», das den Kellerraum mit Leben füllt. Wer sich mit den Anliegen der beiden Kollektive auseinandersetzt, trifft immer wieder auf diese Parole: «Gisi bleibt». Doch was beutet das genau? Geplant ist schliesslich nur eine Renovation und nicht der Abriss des Gebäudes. Würde die «Gisi» also nicht ohnehin «bleiben»? Die Antwort ist schnell gegeben: nein. Denn die «Gisi» ist mehr als nur eine in die Jahre gekommene Fassade. Ohne die Menschen, die in ihm leben und wirken, wäre das Haus nur ein Gebäude. Es sind sie, die aus der General-Guisanstrasse 31 die «Gisi» machen.

 

«Ich habe hier ein Zuhause gefunden»

 

Normalerweise beschränkt sich der Kulturbetrieb in der Gisi auf den Kellerraum. Doch am Hausfest gibt es gleich mehrere Nebenschauplätze. Zum Beispiel das Treppenhaus – da steigt an diesem Samstagabend der «Stegehuus-Rave». Zu Eurodance Hits à la «L’amour Toujours» und «Everytime We Touch» tanzen sich auf den Treppenstufen etwa 30 Leute schwitzig. Am oberen Ende der Treppe steht ein kleiner Stand, an dem ein eigenartiger Drink zur Erfrischung angeboten wird: Essiggurkenwasser mit Wodka.

Eine passable Kombination, wie sich herausstellt. Mit meinem Glas in der Hand mische ich mich unter die Leute auf der unebenen Tanzfläche. Dort treffe ich auf Laurenz. Einige Tage zuvor hatten wir uns bereits auf ein Gespräch über die Gisi getroffen.

 

Laurenz ist seit einem Jahr einer von dreizehn Menschen, die zurzeit in der Gisi leben. Die Gisi sei «Liebe auf den ersten Blick gewesen». Zuvor hatte Laurenz «ganz kleinbürgerlich in einem Mietverhältnis» in Zürich gewohnt. Das makellose Hochdeutsch lässt allerdings vermuten, dass Laurenz‘ Geschichte irgendwo im nördlichen Nachbarland der Schweiz ihren Anfang nahm. «Wo ich herkam, herrschte Perspektivlosigkeit», antwortet Laurenz auf die Frage, weshalb Deutschland kein Zuhause mehr ist. «Meine Mutter und mein Vater haben sich in der Lohnarbeit kaputt geschuftet und sind ausgebrannt.» Einen der wenigen verfügbaren Jobs anzunehmen und es den Eltern gleichzutun, sei ausser Frage gestanden. Das habe dazu geführt, dass Laurenz sich politisierte und sich antikapitalistisch organisierte. «Ich wollte erfahren, wie sich Menschen an anderen Orten politisch organisieren und mich besser vernetzen.» Deshalb zog Laurenz auf der Suche nach einem anderen Lebensentwurf los, und landete über mehrere Stationen in Zürich. Dort organisierte Laurenz unter anderem «Küfas» (Küche für alle) im ehemaligen Postgebäude am Wipkingerplatz, das seit 2023 besetzt ist. Das gemeinnützige Kochen ist für Laurenz ein Weg, einen realen Unterschied zu machen. Im «Post-Squat», wie die Besetzung in der Szene genannt werde, seien auch immer politisch vernetzte Leute aus Winterthur ein und aus gegangen. So hat Laurenz von der Gisi erfahren. «Ich habe gehört, dass in Winterthur an Konzerten oft Leute fehlen, die kochen. Und weil ich noch nie in Winterthur gewesen war, dachte ich mir, das schau’ ich mir mal an.» Wieso es nun Liebe auf den ersten Blick war? «Ich wurde familiär aufgenommen, es war wunderbar einfach, miteinander zu connecten», sagt Laurenz. «Ich verbrachte dann mehr und mehr Zeit in Winterthur.» Hier gäbe es ein grosses «Wir-Gefühl» in den linken Kreisen, man treffe die Menschen auch einfach in der Stadt an. Laurenz habe dieses Gefühl, diese Zugehörigkeit vermisst. Denn in Zürich sei das anders, die Menschen seien individualistischer. Umso grösser sei die Freude gewesen, als in der Gisi ein Zimmer frei wurde und Laurenz vorgeschlagen wurde, einzuziehen. «Ich habe hier ein Zuhause gefunden.»

 

«Sowas kannst du nicht ersetzen»

 

In die Gisi einziehen zu können, sei natürlich praktisch gewesen, sagt Laurenz. Das Leben in einer Besetzung sei aber vor allem ein politisches Statement. «Diese Wohnform an sich ist ein Akt der Rebellion.» Gerade grosse Immobilienkonzerne würden an ihren Liegenschaften Unsummen verdienen. Denn wer Wohnraum besitze, könne mit Mieten Profit scheffeln. In einer Besetzung zu leben, entziehe sich dieser Systemlogik.

 

Die Gisi ist allerdings mehr als nur ein Zuhause für die dreizehn Bewohner*innen – sie ist ein international bekannter und vernetzter Ort. Menschen aus der ganzen Welt können hier für ein paar Tage Unterschlupf finden, sagt Laurenz. Egal ob Gastarbeiter*innen, Gesell*innen auf Tippelei, oder einfach Leute auf der Durchreise – es würde sich immer ein Platz finden lassen, oft auch spontan. Nicht selten komme es vor, dass es um zwei Uhr nachts an der Haustür klingle, jemand davorstehe und frage: «Kann ich bei euch pennen?» Diese Möglichkeit bieten zu können, sei enorm schön, sagt Laurenz und fügt an: «So habe ich schon einige internationale Freundschaften geschlossen». Gerade für Menschen aus ärmeren Ländern sei es oft die einzige Möglichkeit, hier «im Herzen des Kapitalismus» übernachten zu können. «Das ist wie ein sicherer Hafen.» Für Laurenz ist klar: Ohne die Gisi würde ein riesiges soziales Loch in der Stadt klaffen. «Sowas kannst du nicht ersetzen.»

 

«Hier gehöre ich hin»

 

Genug getanzt – ich brauche eine Verschnaufpause. Vom «Stegehuus-Rave» gehe ich zurück ins Erdgeschoss. Von dort führt eine kleine Treppe in den Keller des Hauses. Vorbei an einem Stand, an dem Soli-Merch für das KuZeB in Bremgarten – die älteste Besetzung der Schweiz – aufliegt. Heisse, stickige Luft schlägt mir entgegen, die Bar spendet zum Soli-Preis Abkühlung. Hier treffe ich wieder auf diese Parole: «Gisi bleibt». Von gemalten Stangen Dynamit flankiert, ziert sie das Transparent, das als Hintergrund der Kellerbühne dient.  

 

Die Gisi war von Beginn an auch immer ein Ort, an dem niederschwellige Kultur stattfinden konnte – nicht nur an den Hausfesten. In den letzten 27 Jahren gab es in diesem Keller mindestens 697 Veranstaltungen. Konzerte, Raves, Lesungen, Kinoabende und mehr – alles ehrenamtlich vom Kollektiv «Subcultura» organisiert. Die «Subcultura» wurde 1998 gegründet – ein Jahr nach der Besetzung. Im selben Jahr kam Zej zur Welt. 27 Jahre später ist Zej ein Teil des Kulturkollektivs. Auch Zej traf ich vor einigen Tagen auf ein Gespräch. «Räume wie die Subcultura sind enorm wichtig. Gerade für junge Menschen, die sich in ihrer Identität unsicher sind und Anschluss finden wollen», sagt Zej. Zejs eigene Geschichte zeugt davon.

 

Wie Laurenz ist auch Zej über Umwege hier gelandet. Als Kind einer bosnischen Mutter und eines tunesischen Vaters, die als Sans-Papier in die Schweiz kamen, habe Zej lange damit gekämpft, sich nirgendwo wirklich zugehörig zu fühlen. «Für eine*n Bosnier*in bin ich zu exotisch, für eine*n Tunesier*in zu weiss und in der Schweiz sowieso einfach nur Ausländer*in.» Nach einer schwierigen Zeit in der Schule absolvierte Zej eine Ausbildung zur Fachperson Betreuung und die Berufsschule in Winterthur. Der Weg zum Schulweg führte an der Gisi vorbei. Zey war fasziniert von diesem Haus, das aus der Reihe zu tanzen schien: «Ich habe immer dieses Haus gesehen und mir gedacht: Sieht voll geil aus.» 2021 lud eine Freundin Zej zu einer «Flinta-Bar» in der Subcultura ein – ein Anlass ausschliesslich für Frauen, Lesben, Inter-, Trans- und Agenderpersonen. So betrat Zej zum ersten Mal das Gebäude, das vor kurzem noch eine Faszination war. Der Abend prägte Zej. «Es war der erste soziale Raum, indem ich mich einfach wohlgefühlt habe. Hier hat mich niemand hinterfragt, ich konnte einfach sein.», sagt Zej. «Ich hatte das erste Mal in meinem Leben das Gefühl: Hier gehöre ich hin.»

 

«Hier wird gelebt, gelacht, geweint»

 

Die Subcultura ist ein selbstverwalteter und nicht kommerzieller Kulturraum. Grundsätzlich könne jede Person einen Event anreissen, sagt Zej. Dieser kollektivistische Ansatz spiegelt sich auch in der Preispolitik der Subcultura. Kultur kostet, um das kommt auch ein antikapitalistisches Kollektiv nicht ganz herum. Der Ansatz ist allerdings ein anderer. Veranstaltungen, Konzerte und die Bar funktionieren alle im «Soli-Prinzip». Besucher*innen bezahlen, was sie können. Der Richtpreis für ein Konzert liegt in der Regel bei 10 Franken. Wichtiger sei aber, dass alle teilhaben können, sagt Zej. «Du kommst, weil du willst. Nicht weil du 10 Stutz hast.» Gerade für jüngere Leute ohne viel Geld sei das wichtig. Gerade in einer Zeit, in der die Preise steigen und Kulturveranstaltungen so für viele ausser Reichweite rücken würden. Das würde verloren gehen, wenn die General-Guisanstrasse 31 renoviert wird. Das bewegt Zej. Die Gisi sei nicht einfach irgendein abgeranztes Haus. Es sei für so viele Menschen ein Bezugspunkt. Ein Zuhause – sowohl im wörtlichen wie bildlichen Sinn. «Ich kann mir Winterthur nicht ohne die Gisi vorstellen. Hier wird gelebt, gelacht und geheult», sagt Zej mit feuchten Augen. «Die Situation macht mich fertig.»

 

«Und wo gibt’s das denn sonst?»

 

Während einer Konzertpause sitze ich draussen an einem Tisch im Innenhof – direkt unter dem «Gisi bleibt»-Transparent. Ich beobachte die Menschen um mich herum und frage mich, was es wohl für sie ist, das «bleiben soll» – falls «es» denn überhaupt bleiben soll. Auf die Frage «Was ist die Gisi für dich?» erhalte ich viele Antworten. Luca sagt, die Gisi sei ein «Safer Space für alle, mit guten Leuten und guter Musik» – davon gäbe in der Stadt zu wenig. Das gehöre verteidigt. Für Nik steht die Musik im Vordergrund: «Hier gibt es Konzerte von kleinen Bands, weg vom Mainstream. Das ist wichtig, auch wenn mir nicht alles gefällt!» Yuri sieht es ähnlich. Es sei ein Ort, an dem alle willkommen seien, auch wenn sie kein Geld hätten. Dadurch, dass die Gisi nicht kommerziell ist, kann sie auch Künstler*innen, die kein Geld einbringen, eine Plattform bieten. «Und wo gibt’s das denn sonst?» Mo bringt einen weiteren Punkt ein: «In solchen autonomen Räumen wird seit Jahren ehrenamtlich soziokulturelle Arbeit geleistet.» Die Menschen der Gisi und Subcultura seien diejenigen, die Angebote wie ein Gratisladen auf die Beine stellen.

 

Mit diesen Antworten und vielleicht einem Essiggurken-Wodka zu viel intus mache ich mich auf den Heimweg. Was «bleibt», wenn die «Gisi bleibt»? Ein Zuhause, ein kommerzbefreiter Kulturort und ein konkreter Gegenvorschlag zu einem von Verwertungslogik bestimmten System. Doch vor allem bleibt ein Ort, der Menschen verbindet – politisch, sozial und kulturell.

 

Sebastian Galli ist Journalist, Barkeeper und Fan von verrauchten Kellerkonzerten.

Ansätze für die Stadt von morgen
Ansätze für die Stadt von morgen
Hintergrund

Wie bleibt eine Stadt lebenswert, wenn der Raum immer knapper wird? Die Verdichtung setzt urbane Zentren unter Druck – auch Winterthur. Inspiriert durch architektonische Utopien schauen wir uns…

Wie Winterthur zu seinen Bieren kam
Wie Winterthur zu seinen Bieren kam
Hintergrund

Haldengut war lange das einzige Winterthurer Bier – heute wird in der Stadt eine Fülle an Craft-Bieren gebraut. Das ist unter anderem einem Getränkeladen an der Steinberggasse und lokalen…

Ein Stück Alltag in der neuen Heimat
Ein Stück Alltag in der neuen Heimat
Hintergrund

Deutschintensiv-Kurse, Tandempartner*innen, Integrationsbegleitungen, Sprachtreffs: Wo staatliche Massnahmen zur Integration und Möglichkeiten für Menschen mit Fluchterfahrung fehlen, springen…