Ein Fest für die Wundertüte

Seit zehn Jahren sendet Radio Stadtfilter nicht-kommerzielle Musik und berichtet über Kultur und Politik in Winterthur. Ein Grund zum Feiern – und zwar am Samstag, 2. März, im Gaswerk.

«This is Rock’n’Roll radio, come on, let’s Rock’n’Roll with the Ramones»: Mit diesem Song ging Radio Stadtfilter am 6. März 2009 um Mitternacht auf Sendung. Während die Gründer um Vereinspräsident Jürg Feuz im Studio den Countdown runterzählten, liessen die zukünftigen Sendungsmachenden und Zuhörer*innen die Korken bei der Sendestartparty im Kulturzentrum Gaswerk knallen – an dem Ort, wo nun am Samstag, 2. März, wieder ein Stadtfilter-Fest stattfinden wird.

Partys hat der Verein hinter Radio Stadtfilter schon viele organisiert: Mehrmals im Jahr lädt der Verein seine circa 500 Mitglieder und die Hörer*innen zu Konzerten in einen der OnThur-Clubs ein. Auch am 2. März gibt es  im Gaswerk , wie an anderen Partys, Live-Bands und DJs am Abend sowie ein Nachmittagsprogramm für Gross und Klein. Dennoch ist das Fest für den Verein ein besonderes: Es ist der Auftakt zu verschiedenen Veranstaltungen rund um das zehnjährige Bestehen des Radiobetriebes. Dass dieses nicht selbstverständlich ist, zeigt ein Blick in die Geschichte von Radio Stadtfilter, die dessen Team für eine Jubiläumsausstellung am 2. März im Kino Nische aufgearbeitet hat.

 

Improvisierter Sendemonat

Die Idee für ein alternatives Lokalradio hatten ein paar umtriebige Winterthurer*innen bereits 2004: Im Gasthof zum Widder sprachen sie über das Fehlen eines Kulturradios – und beschlossen, selbst ein solches auf die Beine zustellen, obwohl niemand von ihnen eine Ahnung vom Radiomachen hatte. Sie gründeten 2005 den Verein und beantragten eine 30-tägige Konzession beim Bund; im November sendete Radio Stadtfilter erstmals einen ganzen Monat aus einem improvisierten Studio, das im Bandübungsraum einer Privatperson auf dem Lagerplatz eingerichtet wurde. Damals engagierten sich etwa 60 Personen ehrenamtlich, damit das Radio 24 Stunden am Tag on Air war: Sie stellten ein Programm aus den Musiksammlungen diverser Personen zusammen, machten Live-Übertragungen von den Spielen des FC Winterthurs oder von Konzerten und interviewten Bands. 2006 gab es nochmals einen Sendemonat, danach stürzten sich die Radiomacher*innen in die Lobby- und Konzeptarbeit – mit dem Ziel, eine feste Radiofrequenz für Winterthur zu bekommen.

Heute ist Radio Stadtfilter über die Frequenz 96,3 MHz sowie DAB+ empfangbar und im Volkart Haus an der Turnerstrasse zu Hause. Direkt unter dem Dach befinden sich zwei Studios, die Redaktionsräume mit etwa 15 Computer-Arbeitsplätzen und einen Aufenthaltsraum. 200 ehrenamtliche Sendungsmachende gehen hier ein und aus: Sie werden von 10 Festangestellten betreut, die sich 520 Stellenprozent teilen und sich um Technik, Koordination, redaktionelle Arbeit sowie die Ausbildung von Praktikant*innen kümmern.

 

Das überraschende Kulturradio

«Nach den zwei Versuchsbetrieben am Anfang hätte ich nicht gedacht, dass es Radio Stadtfilter nach zehn Jahren noch gibt», sagt Cartoonist Ruedi Widmer. Er hat sein Büro unmittelbar neben dem Radio-Studio und beobachtet – abgetrennt durch ein paar Glaswände – tagtäglich das Geschehen im Studio. Für ihn ist Radio Stadtfilter eine Wundertüte: «Jedes Mal wenn ich einschalte, läuft etwas, das ich nicht erwartet hätte – im positiven Sinn!» Inzwischen habe der Betrieb eine gewisse Routine, das Programm sei innovativ und gut gestaltet; die Moderation mal besser oder schlechter – darüber könne er aber hinweghören. Denn der Wert, den das lokale Radio für Winterthur hat, sei immens: «Für die Kulturszene ist Radio Stadtfilter ein Schaufenster für all das, was läuft. Auch das soziale Engagement der Radiomachenden ist sehr gross und enorm wichtig für die Stadt.» So gibt es zum Beispiel die Sendung «Vitamin B» für Jugendliche, die auf Jobsuche sind. Und einmal in der Woche besucht Radio Schrägformat (früher Radio loco-motivo) das Studio und erarbeitet mit psychisch beeinträchtigen Menschen eine Sendung, die am ersten Donnerstag im Monat zwischen 16 und 17 Uhr ausgestrahlt wird.

 

Das Ausbildungs-Radio

Die Atmosphäre in der Redaktion ist angenehm ruhig. Redaktor Fabio Müller sitzt vor dem Computer und beantwortet E-Mails. Praktikantin Olivia Staub durchforstet online verschiedene Medienberichte, während Praktikant Benjamin Schmidhauser per Telefon die ersten möglichen Interviewpartnerinnen für seine Geschichte kontaktiert: «Ich habe gehört, dass in der Handball-Szene gerade einiges los ist. Pfadi Winterthur hat kein Geld mehr. Deshalb wollte ich fragen, ob ich mit jemandem von ihrem Verein ein Interview machen kann.» – «Super, danke für die Info. Dann melde ich mich dort.» Kaum hat er aufgelegt, greift Olivia zum Telefonhörer: «Grüezi, ich recherchiere zu einem Artikel zur Zersiedelungs-Initiative. Hätten Sie heute Zeit für ein Interview?» Techniker Kai Brenner und Salvatore Pittà, mitverantwortlich für die Koordination, beraten sich über die zehn Jahre alte Sendeantenne auf dem Brühlberg und wann diese altershalber ersetzt werden müsste. Praktikantin Delia Landolt sitzt derweil etwas abseits in der Ecke der Musikredaktion. Sie hat Kopfhörer aufgesetzt und bereitet sich auf die Mittags-Sendung «Highnoon» vor. Als Gast hat sie Fabe Vega eingeladen, weil der Winterthurer Musiker zwei Tage später ein Konzert im Theater am Gleis spielt.

Sechs Monate dauert ein Praktikum bei Radio Stadtfilter. Die Ausbildung war bisher ehrenamtlich. «2019 können wir nun erstmals einen kleinen Praktikumslohn auszahlen», sagt Redaktor Fabio. Möglich ist dies dank einer Erhöhung der Gebührenbeiträge des Bundesamtes für Kommunikation (Bakoms) an den Verein. Die Ausbildung von Praktikant*innen gehört zu den Hauptaufgaben des Radios. Ihr Alter reicht von 18 bis 40 Jahre; manche studieren an der ZHAW, andere haben erst gerade die Matur abgeschlossen oder sind Quereinsteiger. Sie erhalten hier eine Grundausbildung im Radiomachen und können Recherchen oder Sendungen zu Themen, die sie interessieren, erarbeiten. «Wir bieten unseren Praktikant*innen viele Freiheiten – und vor allem Zeit», sagt Fabio. Denn Zeit sei heutzutage ein Luxus; in vielen Medienunternehmen fehle diese, um qualitativ etwas Gutes zu machen.

 

Das Hörer*innen-Radio

Radio Stadtfilter war für Fabio «Liebe auf den ersten Ton»: «Durch die Arbeit bei Stadtfilter habe ich Winterthur aus einer ganz anderen Perspektive kennengelernt», bemerkt der 29-jährige, ausgebildete Radiojournalist. Er habe vor allem viel über die Freiwilligenarbeit gelernt, die unzählige kulturinteressierte Menschen in dieser Stadt leisten. Gerade weil sich der Sender als Plattform verstehe, die allen ein Mikrophon biete, würden sich hier Menschen aus verschiedenen Ecken und Kulturszenen der Stadt engagieren. Am Abend gibt es Sendungen zu elektronischer Musik wie auch zu Metall und Punk. Quartierbewohner*innen aus Töss und der Lokstadt betreuen ein Quartierradio und berichten regelmässig über das Leben in ihrem Stadtteil. Im «Weltempfänger» gestalten Migrant*innen eine Sendung in ihrer Muttersprache. Legendär ist auch die Sendung «Trauriger Samstag», in der – wie es der Name bereits sagt – nur traurige Musik zu hören ist. Jeden Sonntag von 14 bis 15 Uhr läuft «Seniorama», das von Senior*innen, von der Planung über die Aufnahme bis hin zum Schneiden der Beiträge, selbstständig realisiert wird. Inhaltlich greifen sie in Beiträgen und Diskussionen Themen auf, die speziell ältere Menschen interessieren.

«Die Sendungsmachenden von Seniorama sind übrigens sehr aktiv», sagt die Koordinations-Verantwortliche Sinikka Jenni. «Die Senior*innen hatten für das Jubiläumsjahr viele Ideen: Für den Herbst organisieren sie im Kino Cameo ein Podiumsgespräch zum Film «Radio Days» von Woody Allen.» Es ist übrigens nicht der einzige Film, den Stadtfilter in Zusammenarbeit mit einem der lokalen Kulturkinos zeigt: Im Kino Nische ist im September eine Filmreihe zum Thema Radio geplant. Geplant ist zudem eine Themenwoche im März, in der die Redaktion allerlei spannende Anekdoten aus den letzten zehn Jahren erzählen wird. Aber auch um die Zukunft macht sich das Stadtfilter-Team bereits Gedanken. Bis 2024 steht die komplette Umstellung auf DAB+ an. Zudem wird zurzeit ein neues Bundesgesetzt über elektronische Medien (BGeM) erarbeitet, das das bestehende Bundesgesetz über Radio und Fernsehen (RTVG) in den nächsten Jahren ablösen wird. Es sind Entwicklungen, die sowohl der Verein als auch der Verwaltungsrat bereits jetzt in ihrer langfristigen Planung mitreflektieren müssen. Denn Radio Stadtfilter soll auch in zehn Jahren noch – so beschreibt es Koordinator Salvatore Pittà treffend – «die Stimme derjenigen sein, die sonst keine oder nur selten eine Stimme erhalten.»

 

 

Stadtfilter-Jubiläums-Fest

Samstag, 2. März

Stadtfilter Jubiläumsausstellung im Kino Nische

Nachmittagsprogramm für Gross und Klein mit
live Radio und Basteltisch, von 14 bis 17:30 Uhr

Konzert und Radio Stadtfilter DJ Night ab 20 Uhr

im Gaswerk

Untere Schöntalstrasse 19

www.stadtfilter.ch

 

Milad Ahmadvand ist im Iran geboren, lebt seit mehreren Jahren in Winterthur und arbeitet als selbstständiger Fotograf. Er war auf Signalsuche im Studio von Radio Stadtfilter.

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