Ein neues Kino für die Filmstadt

Das Kino hatte in Winterthur anfangs einen schweren Stand. Nun eröffnet im Herbst 2015 ein neues Kino auf dem Lagerplatz. Wird Winterthur zum neuen Mekka des Films?

Engagement für den guten Film hat in Winterthur Tradition: Seit über 40 Jahren sorgt das «Filmfoyer» aktiv dafür, dass neben dem kommerziellen Angebot auch qualitativ hochstehende Filme zu sehen sind. Mit dem Ziel «den künstlerisch wertvollen und fortschrittlich engagierten Film zu fördern» traf sich in den 1960er-Jahren eine zusammengewürfelte Gruppe Filminteressierter regelmässig im Jugendhaus und organisierte Filmabende. Hatte die Gruppe anfangs noch das Image eines verschworenen Film-Freak-Clubs, wurde sie in den 1980er-Jahren zunehmend professioneller. Seit einigen Jahren präsentiert das «Filmfoyer» jeden Dienstagabend Studiofilme im Kino «Loge». Doch das scheint den Mitgliedern nicht genug zu sein: Sie haben seit kurzem die «verbrecherische Lust», ein Kino zu bauen.

Ab Herbst 2015 sollen von Dienstag bis Sonntag jeden Abend Filme über die Leinwand des neuen Kinos auf dem Lagerplatz laufen. Der Verein plant ein unabhängiges Programm- und Arthouse-Kino mit 84 Plätzen, in dem nicht nur aktuelle und ältere Studio- und Reprisenfilme in Originalsprache laufen sollen. «Es werden auch Premieren gezeigt», sagt Rolf Heusser, Präsident des Filmfoyer, der die Kinoprojektgruppe leitet. Zudem soll es ein Ort für die lokale und regionale Filmkultur werden. Ein Ort also, an dem Diskussionen zu Filmen geführt oder auch mal spezielle Filmreihen- oder Anlässe gezeigt werden können.. Kooperationen mit den Kurzfilmtagen, dem Kino Nische, dem Kinderkino Zauberlaterne oder den Museen sind bereits angedacht und bieten Möglichkeiten für Anlässe mit «Festival-Charakter». Auf dem Programm stehen nicht nur intellektuelle Filme, sondern auch Unterhaltungskino mit Tiefgang. «Das kann so weit gehen, dass auch mal James Bond zu sehen sein wird», sagt der Leiter des Projekts. Möglich sei aber auch, mehrstündige Filme zu zeigen – zum Beispiel mit einem Abendessen dazwischen. Oder Fernseh-Serien an einem ganzen Tag, ... Ideen gibt es unzählige.

 

Keine Konkurrenz, sondern Ergänzung

Mit dem im Jahr 2000 gebauten Kiwi-Zentrum am Neumarkt und dem 2010 eröffneten Multiplex-Kino Maxx im Kesselhaus gibt es zwei grosse Mainstream-Kinos in der Stadt, deren Auslastung eher mittelmässig ist. Das Kino Nische im Kulturzentrum Gaswerk und das Filmfoyer in der Loge bieten an zwei Abenden unter der Woche ein Alternativ-Programm zu den kommerziell-orientierten Filmen an. Soll mit dem bereits bestehenden Kinoangebot und nun auch mit dem Lagerplatz-Kino aus Winterthur eine Film-Metropole werden? Und warum genau jetzt? Die Stadt muss Sparen. «Das Kino auf dem Lagerplatz ist nicht als Konkurrenz, sondern als eine Ergänzung zum Filmfoyer und der Kino Nische im Gaswerk zu verstehen», sagt Heusser. Das Kino bietet die Möglichkeit, an mehr als nur an zwei Abenden Studiofilme zu zeigen. «Ausserdem bietet sich gerade jetzt die Möglichkeit mit der Stiftung Abendrot, zusammenzuarbeiten. Der Lagerplatz ist zurzeit ein Ort, der sich entwickelt und wo vieles möglich ist», sagt Heusser. Die Baubewilligung liegt bald vor. Wenn nun noch die notwenigen finanziellen Mittel und genügend Helfer zusammenkommen, die im laufenden Betrieb hinter der Bar und an der Kasse oder in der Programmgruppe ehrenamtlich mitarbeiten wollen, steht dem Projekt nicht mehr viel im Wege. Doch ist Winterthur überhaupt eine Stadt, die das Potential hat zur Filmstadt zu werden? Ein Blick zurück.

Das Kino hatte hier in seinen Anfängen einen schweren Stand. Zwar war es ab und zu als Wanderkino auf den Rummelplätzen in der Eulachstadt zu Gast, der Bau eines Kino-Hauses war aber 1907 noch von der Stadt Winterthur verboten, während in anderen Städten bereits seit 1907 feste Säle für Kinomatographen eingerichtet wurden. Das änderte sich erst 1912, als das «Central» (am Archplatz) und das «Palace» (am Untertor) eröffnet wurden.

 

Mit Orangenschalen und Schuhen beworfen

Im Haus «Zum Merkur» neben dem heutigen National an der unteren Stadthausstrasse gab es zwischen 1909 und 1911 bereits ein bis zwei Mal wöchentlich Filmvorführungen. Im Programm waren lustige und schaurige Filme, die von einem Klavierspieler begleitet wurden. Dass die musikalische Untermalung meist nicht ganz zum Film passte, war durchaus üblich. Der Winterthurer Schriftsteller Alfred Stamm beschreibt in seinen Erinnerungen an die 1920er-Jahre beispielsweise, wie eine Pianistin, die vom Publikum getrennt sass, häufig mit dem Spiel vom Film abkam, so dass sie Szenen mit Gewehrschüssen mit einem Adagio begleitete oder zur Beerdigung einen Galopp-Rhythmus spielte. Die jungen Zuschauer äusserten ihren Unmut, in dem sie die Frau mit Orangenschalen oder Schuhen bewarfen.

Ganz so turbulente Filmaufführungen gab es in den «richtigen Kinos» später nicht mehr. Am 2. August 1912 wurde im Saalbau Helvetia (neben der Archbar), das «Central» eröffnet. Eine Woche später lief auch im «Cinema Palace» am Untertor der erste Film über die Leinwand. Für kurze Zeit hatte Winterthur nun also plötzlich drei Filmtheater. Allerdings lief nicht alles so, wie es sich die Besitzer gewünscht hätten. 1913 wurde das Kino «Central» von der führenden französischen Filmgesellschaft Pathé übernommen und zuerst in «Radium», später in «Thalia» umgetauft. Das «National» im Haus «zum Merkur» scheiterte 1914 an den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die der Ausbruch des ersten Weltkrieges mit sich brachte. Und auch das «Palace» musste wegen finanziellen Problemen 1915 den Besitzer wechseln. Der aus Wien stammende Othmar Bock übernahm, um es 1926 an seine Söhne Othmar und Joseph zu übergeben.

 

Der erste grossstädtische Kino-Neubau

Die beiden jungen Bocks waren es denn auch, die eine zweite Kinorevolution in Winterthur auslösten. Am 17. Dezember 1926 öffnete das «Lichtspielhaus Talgarten» seine Tore. Es war das erste Winterthurer Kino, das von Grund auf zu diesem Zweck erbaut worden war. Über das von den Architekten Robert Rittmeyer und Walter Furrer entworfene Gebäude schrieb der Landbote damals: «Durchaus grossstädtisch wurde jedem zu Mute; denn Raum und Farben, Logen und Treppenaufgang, Bestuhlung und Fussböden sind jeder Grossstadt würdig. Auch nach heutigen Massstäben war der Monumentalbau mit 1700 Plätzen auf 2 Stöcke verteitl riesengross. Zudem war der Eintritt im Talgarten günstig und so auch für die unteren Bevölkerungsschichten interessant. Der wirtschaftliche Aufschwung war garantiert. So wurde das «Neumarkt» gebaut, das zweite Grosskino der Stadt, und kurz darauf das «City» als weiteres Lichtspieltheater eröffnet.

Die «Revolverküche»

Nach dem Vorbild echter Theater wollte man mit Logen und Rängen den hohen Ansprüchen des Bildungsbürgertums gerecht werden. Reine Unterhaltung galt als verpönt. Eine Veranstaltung musste, wenn schon keine Kunst geboten wurde, lehrreich sein und die Zuschauer «weiterbringen». Doch das Kino war von Anfang an ein Medium, das die Massen des einfachen Volkes und nicht die Gebildeten anzog. Trotz der Ambitionen der Kinobesitzer, das Kino vom blossen Unterhaltungs- zum Bildungsinstitut umzuformen, scheuten viele gebildete Winterthurerinnen und Winterthurer den Weg ins Kino weiterhin. Ja, man verheimlichte den Kinobesuch sogar, wie es der Autor Alfred Stamm in seinen Erinnerungen schildert: «Das Kino galt um jene Zeit nicht als hoffähig. …Und wer die Mittel besass und deswegen nach Zürich ins «Bellevue» oder in den «Orient» fuhr, bewahrte Stillschwiegen ob solchen Seitensprüngen.» Das änderte sich auch später nicht: Als «Schrecken aller alten Tanten und Erziehungsapostel» wurde das «Thalia» 1940 im «Neuen Winterthurer Tagblatt» beschrieben. 1939 wurde das auch als «Revolverküche» bekannte und berüchtigte Kino abgerissen. An seiner Stelle entstand wieder ein Kino, das wiederum dem Ruf seines Vorgängers treu blieb: Auch hier liefen primär Krimis und Western. Beliebt war es aber vor allem, weil es für einen Eintritt zwei Filme zu sehen gar. Kurz vor der Schliessung 1981 mutierte es dann noch zum Sexkino.

 

Ein Holzboden für die Filmkunst

Nicht nur in der Altstadt gab es Kinos, sondern auch in den Quartieren. 1929 entstand im Gerteis-Haus an der Zürcherstrasse 96  das Kino Eden, das vor allem für das Abspielen der damals neuen Tonfilm eingerichtet war. Max Koch betrieb dieses Kino und richtete 1946 im Restaurant zur Platte an der Bachtelstrasse das Kino «Rex» mit rund 500 Plätzen ein. Im Baubeschrieb steht, dass sich «das Rex speziell zur Aufgabe macht, einen besseren Film-Genre zu pflegen, es sind demnach auch eine Reihe sehr wertvoller Qualitätsfilme abgeschlossen worden.». Mit dem Bau des «Palace» 1949 an der Technikumstrasse existierten in Winterthur zwischenzeitlich sieben Kinos. Ein Mekka? Nein. Als «Holzboden für die Filmkunst» bezeichnete 1962 im «Neuen Winterthurer Tagblatt» Hans Kaufmann diese Stadt, Besitzer mehrerer Kinos in Winterthur . Mit der Einführung des Fernsehens sanken die Besucherzahlen, kaum jemand ging noch in die Kinos. Überhaupt war in den 1960er-Jahren von einem «Kinosterben» die Rede. Um die Attraktivität zu steigern, versuchten es die Produktionsfirmen mit Experimenten wie zum Beispiel den 3D-Filmen. Anfangs der 1970er brach dann der Markt ganz ein. In fast jedem Haushalt stand ein Fernsehgerät und Kinofilme waren zunehmend auf Video erhältlich. Die grossen Kinohäuser wurden verkleinert. Im Juli 1973 musste das Programm im «Rex» eingestellt werden. Der Züricher Anwalt Hanspeter Sigg nutze die Gelegenheit, kaufte die Kinos «Talgarten» und «Palace» und hatte somit das Kinomonopol in der Eulachstadt inne. Kontroverse Diskussionen waren die Folge. Das ging sogar soweit, dass der damalige Kantonsrat Ernst Wohlwend 1986 eine Anfrage beim Regierungsrat einreichte. Dieser sah aber die kulturelle Vielfalt in Winterthur nicht gefährdet.

 

Ein Mekka der Filmkunst

Aus Unzufriedenheit über das Kinomonopol wurden am Graben zwei neue Studiokinos eingerichtet. Andreas Reinhart, Grossneffe von Oskar Reinhart, investierte zwölf Millionen Franken in das Loge-Projekt. 1991 wurde das Kulturhaus mit Theatersaal, Restaurant, Hotel und zwei Kinos eröffnet. Die Kinos zeigten zumeist eher anspruchsvolle Filme in der Originalsprache Allerdings rentierte auch die «Loge» nicht und wurde 1997 ebenfalls verkauft. 2000 wurde das Kinocenter Kiwi durch den Erwerb der Liegenschaften Neumarkt 7 und 9 ausgebaut. In elf Sälen werden im Kiwi am Neumarktplatz heute Filme gezeigt. Winterthur sei damit kein «Holzboden» mehr für den Film, sondern eher «ein Mekka der Filmkunst», meinte Sigg im Jahr 2002.

Dank den Kurzfilmtagen, dem Filmfoyer und dem Kino Nische ist Winterthur bereits ein Ort, an dem Filmliebhaber mehr als nur Mainstream-Filme vorfinden. Doch besteht in einer Zeit des «Home-Cinemas» und der Online-Streaming-Plattformen überhaupt noch das Bedürfnis ins Kino zu gehen? «Der Zuspruch im Filmfoyer ist gut», sagt Heusser. Zudem wird das Kino vermehrt wieder als soziales Erlebnis gesehen. «Das Kino am Lagerplatz soll ein Ort werden, wo in einem guten Ambiente auch der soziale Austausch gepflegt werden kann.» Es soll ein Kino der Entdeckungen werden. Wenn es zugleich zu einem richtigen Mekka der Filmkunst wird, umso besser.

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