Kultur und Politik? Eine Analyse

Die kulturelle Vielfalt ist für Winterthur bedeutend. Doch wenn es darum geht, das Kulturangebot zu erhalten, zeigt sich die Ideenlosigkeit. Eine Analyse im Vorfeld der Wahlen.

Vielfältig, innovativ, hochstehend, bunt, unabhängig, einzigartig, interessant, charakteristisch, cool, alternativ, weltoffen, kreativ, engagiert, abwechslungsreich, lebendig und urban: So wird die Kultur in Winterthur von rund 90 Gemeinderats-Kandidierenden in einer Online-Umfrage der Kulturlobby Winterthur beschrieben. Gerade die Vielfalt der Kultur in Winterthur mache Winterthur attraktiv und wird in nahezu allen Antworten als wichtiger Standortfaktor für Winterthur anerkannt, selbst von jenen, die sich kritisch darüber äussern, dass die Bedeutung dieses Standortfaktors überschätzt sei. Winterthur ist eine Kulturstadt – das stellt niemand in Frage. Und dennoch sorgt das Thema Kultur für viel Diskussionsstoff und auch Unstimmigkeiten – vor allem im Hinblick auf die Budgetkürzungen von gut zwölf Millionen Franken in allen Lebensbereichen. Gesprächsthemen der letzten Monate waren unter anderem die Subventionen an Kulturinstitutionen, die Zusammenlegung einzelner Museumsbetriebe, die Übernahme des Stadttheaters durch eine private Trägerschaft, die Ausarbeitung eines Kulturleitbildes, das aber erst Ende 2015 vorliegen soll, und Freiräume, insbesondere für Jugendliche.

Wie kulturaffin sind Winterthurs Politikerinnen und Politiker? Und wie stehen sie zu Kulturpolitik und Kulturförderung? Die im April 2012 gegründete Kulturlobby, ein Netzwerk von rund 60 Kulturinstitutionen und einzelnen Kulturschaffenden, wollte von den 462 Gemeinderats-Kandidierenden wissen, wie sie die Bedeutung der Kultur in Winterthur einschätzen, welches kulturelle Angebot sie nutzen und was für Ideen und Vorschläge sie für die Erhaltung und Weiterentwicklung des Kulturangebotes haben. Das Ziel der Umfrage: eine Wahlempfehlung für die Gemeinderatswahlen vom 9. Februar. 86 Personen stehen auf dieser Liste, die unabhängig ihrer partei-politischen Zugehörigkeit als kulturaffin eingeschätzt werden. Dass auf dieser Liste auch Mitglieder der GLP und der FDP vertreten sind, sorgte in der Kulturszene für Diskussionen; die beiden Parteien sind nicht gerade dafür bekannt, dass sie sich in Budgetfragen für die Kultur einsetzen.

 

Differenziertes Bild

Zusammen mit einem Politologen hat Coucou die Antworten der 90 Kandidierenden, die den Fragebogen vollständig ausgefüllt haben (145 haben den Link für die Umfrage geöffnet), einer vertieften Analyse unterzogen. Zwar liegt der Rücklauf bei gerade mal 19,5 Prozent. «Wenn man aber davon ausgeht, dass vielleicht die Hälfte bis zwei Drittel aller Gemeinderats-Kandidierenden so oder so nicht davon ausgehen, gewählt zu werden, ist das keine schlechte Ausbeute», sagt Benedikt Zäch, Mitglied der Spurgruppe der Kulturlobby, welche die Umfrage organisierte. Mit Ausnahme der SVP und der EDU haben sich denn auch alle Parteien, wenn auch in unterschiedlich hoher Anzahl, beteiligt, darunter 22 bisherige Gemeinderäte (ein Drittel des Grossen Gemeinderates) und 68 Neu-Kandidierende. Am zahlreichsten vertreten sind die SP mit 26, die FDP mit 18 und die EVP mit 17 Kandidierenden, danach die AL mit 8, die GLP mit 7, die Grünen mit 6 und die CVP mit 5 Personen. Von der BDP füllet zwei, von den Piraten nur jemand den Fragebogen aus.

Trotz der Anerkennung des kulturellen Schaffens und dem Wissen um ihre Bedeutung, zeigt die  Analyse der Antworten ein etwas differenzierteres Bild. Bei der Frage «Welches Kulturangebot nutzen sie und warum?» (Grafiken) zählten die Kandidierenden die Angebote auf, die sie regelmässig besuchen. Jedoch kann man anhand der Antworten nur eine Aussage machen: Die Jungen unter den Kandidierenden schätzen Live-Konzerte und Festivals, während die Älteren tendenziell öfters ins Theater oder Museum gehen. Bei der SP und der AL wie auch bei der FDP beteiligten sich mehr unter 31-Jährige an der Umfrage als bei den anderen Parteien. Die dazu erstellten Grafiken geben dementsprechend alles andere als die korrekte Nutzung des kulturellen Angebots wieder. So nannten die FDPler zum Beispiel keine der unabhängigen Kinos wie das Filmfoyer, das Kino Nische oder Kurzfilmtage, was aber nicht bedeutet, dass die Parteimitglieder nie ins Kino gehen. Die Kinos sind – wie auch die Konzerte, die nicht in einem der vier Winterthurer Konzertlokale des Vereins On-Thur stattfinden – unter dem Begriff Sonstiges aufgeführt. Die Grafiken zeigen ausserdem auf, dass jede und jeder unabhängig der Partei das kulturelle Angebot nutzt, das ihn am meisten interessiert. Aufschlussreicher ist hingegen die Frage, worauf die Kandidierenden bei allfälligen Sparmassnahmen verzichten könnten: Grundsätzlich auf nichts, denn die Vielfalt soll auf jeden Fall erhalten bleiben. Zum Teil werden grosse Institutionen wie das Stadttheater, das Musikkollegium oder Museen genannt – jedoch im Wissen, dass es nie zur Debatte stehen wird, eine dieser Institutionen abzuschaffen.

 

Kultur ist nichts, was politische Kontroversen auslöst

Die Umfrage widerspiegelt ein grundsätzliches Problem: Alle sind für Vielfalt in der Kultur; keiner will hier irgendwelche Abstriche machen oder gar etwas in Frage stellen. Kultur ist nichts, was politische Kontroversen auslöst oder um deren Erhalt sich die Parteien streiten würden. Überhaupt könnte man sich fragen, ob Kultur ein politisches Thema ist? Es sind vor allem Plattitüden über die Wichtigkeit der Kultur für die Stadt, die aufgezählt werden. Das zeigte sich auch am von der SP organisierten Kulturpodium vom 16. Januar im Salzhaus. Ideen zur Erhaltung und Innovationen in der Kultur trotz der städtischen Sparmassnahmen waren am Podium rar. Auch in der Umfrage zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Viele gaben an, dass sie sich bisher nicht mit diesem Thema auseinandergesetzt hätten oder ihnen die nötigen Informationen fehlten.

Während die einen betonen, dass mehr Mittel in die alternative Kultur beziehungsweise in die Nischenkultur, in neue, innovative Projekte und in die Infrastruktur, also Atelier- und Bandräume, investiert werden soll, sind andere der Meinung, dass zur Zeit keine Investitionen nötig seien und die Angebote stärker zusammengefasst werden sollen. Eine verstärkte Fokussierung auf grosse Institutionen, für die sich vor allem Mitglieder der FDP und der GLP aussprechen, steht aber im Widerspruch mit den Aussagen, dass die Vielfalt erhalten bleiben soll.

Die Lösungsvorschläge zum Erhalt des Kulturangebots sind mehr Standardantworten als konstruktive Beiträge. Zudem zeigt sich, dass sich nur wenige aktiv mit den Problemen in der Kulturlandschaft auseinandergesetzt haben. Viele sprechen sich für eine Mischfinanzierung von privaten und öffentlichen Mitteln aus. Von allen Parteien wird an das Mäzenatentum und an Sponsoren appelliert. Insbesondere die grossen «Leuchttürme» sollten einfacher Sponsoren finden können als Betriebe aus der Nischenkultur; hier sind sich SP, FDP und auch die GLP mehr oder weniger einig. Unterschiedliche Schwerpunkte setzen die einzelnen Parteien bei der Finanzierung der Kultur durch die öffentliche Hand. Ein paar wenige fordern die totale Privatisierung oder Kommerzialisierung der Kultur. Andere sprechen sich dafür aus, dass die öffentliche Hand die Vielfalt erhalten und vor allem die kleinen Projekte und Betriebe subventionieren soll. Mitglieder der eher rechts positionierten Parteien sind der Meinung, dass hauptsächlich die grossen Institutionen durch öffentliche Gelder gestärkt werden sollen. Von der AL, der SP und teilweise auch von den Grünen wird eine Steuererhöhung gefordert, die dem Spardruck Abhilfe schaffen soll. Die GLP schlägt die Erhöhung der Eigenfinanzierbarkeit vor. Fundraising, Zusammenarbeit im Bereich Marketing und Sponsorensuche, aber auch Synergienutzung, das Zusammenlegen von Institutionen (vor allem im organisatorischen Bereich) werden von allen Parteien als Lösungsansatz genannt. Antworten bringen soll auch das neue Kulturleitbild. Und was ist nun das Fazit? Ob die Ideenlosigkeit im Bezug auf die Kultur im Gemeinderat auch nach den Wahlen bestehen bleibt, wird sich zeigen. Wichtig wäre aber, wenn die Vielfalt der Stadt erhalten bleiben und sich Winterthur auch in vier Jahren noch Kulturstadt nennen will, dass die Gemeinderäte vermehrt das Gespräch mit Kulturschaffenden suchen, sich informieren und anstatt Plattitüden in einer Umfrage zu formulieren auch mal Taten folgen lassen. Die Wahlempfehlungen der Kulturlobby bietet zwar eine Liste mit Personen, die sich zur Kulturpolitik geäussert haben. Aber wer der Meinung ist, im Grossen Gemeinderat sollte die Kultur stärker vertreten sein, wählt am besten Personen, von denen er oder sie weiss, dass sie sich aktiv in einem kulturellen Bereich engagieren.

Die Umfrage wurde in Zusammenarbeit mit Marius Wenger und der Kulturlobby Winterthur ausgewertet.

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