«Eigentlich haben sie schon genug Probleme.»

Als Kulturfolger zählen Fledermäuse zu den Lebewesen, denen die menschengemachten Veränderungen in der Landschaft entgegenkommen. In den letzten Jahrzehnten sind die Bestände jedoch bedeutend kleiner geworden – was passiert bei unseren klandestinen Stadt-Mitbewohnerinnen zurzeit?

Fledermäuse / im Dunkeln

Flatternde Schatten, die zwischen den Baumwipfeln am Rand der Eschenberglichtung verschwinden; schwarze Flügel, die kurz unter den Lampen im Vögelipark erkennbar werden; kleine Vorbeiflieger spätnachts in der Steinberggasse – Fledermäuse sind in Winterthur keine Seltenheit. Schweizweit werden, wo bekannt, ihre Unterschlüpfe geschützt und die Tiere überwacht, betreut und bei Bedarf auch gepflegt. Dennoch gelten fast alle einheimischen Arten inzwischen als bedroht – als eine «stille Tragödie» bezeichnet die kantonale Fledermaus-Schutzbeauftragte Lea Morf das, was mit den Fledermäusen passiert. Diese stille Tragödie hat viel mit der Natur und Lebensweise der Fledermaus zu tun – die beide derart eigen sind, dass es sich lohnt, sie etwas auszuführen."

Als einziges flugfähiges Säugetier leben Fledermäuse vorzugsweise in dunklen Hohlräumen und Spalten, wo sie den Tag damit verbringen, kopfüber zu hängen – um dann nachts auszufliegen und sich anhand von Ultraschallwellen zu orientieren. Für die allermeisten Menschen sind diese Rufe nicht hörbar, aber den Fledermäusen ermöglichen sie es, in der Dunkelheit nicht nur die Beschaffenheit ihrer Umgebung, sondern auch Objekte und deren Grösse, Form, Oberflächenstruktur und allfällige Bewegungsgeschwindigkeit zu erkennen. Sind sie auf Insektenjagd, können sie so ihre Beute teilweise in der freien Luftbahn ausfindig machen und bis auf Bruchteile von Millimetern genau orten. Fledermäuse können in einer Nacht bis zu einem Drittel ihres eigenen Körpergewichts verspeisen – das kann heissen, dass bis zu 4’000 Insekten ihr Leben lassen müssen. Im Vergleich mit anderen Tieren ihrer Grössenordnung haben sie ein dreimal grösseres Herz und ein Blutbild, das es ihnen erlaubt, ungefähr die doppelte Menge an Sauerstoff aufzunehmen. Während Menschen zur Thermoregulation schwitzen, sind die Flughäute der Fledermäuse mit erweiterten Blutgefässen ausgestattet, was quasi wie ein eingebautes Kühlsystem funktioniert. Die Aufzählung aller biologischen Besonderheiten, wie zum Beispiel die stark ausgeprägten Eckzähne einheimischer Arten, mit denen sie die Chitinpanzer von Insekten aufknacken, lasse ich an dieser Stelle mal aussen vor. In der kühleren Jahreszeit senken die Fledermäuse ihre Körpertemperatur und halten Winterschlaf, den Rest der Zeit verbringen sie in Sommerquartieren. Dort bilden die Weibchen mit den Jungen sogenannte Wochenstuben, die männlichen Tiere leben in dieser Zeit eher einzelgängerisch. Nichtsdestotrotz zeigen Fledermäuse Schwarmverhalten – zum Beispiel wenn sie in Schlafverbänden eng beieinander hängen oder in der Dämmerung ausfliegen. Sie sind oftmals ortstreu und haben dafür, dass sie so klein sind, eine relativ hohe Lebenserwartung: Über 40 Jahre alt können gewisse Arten werden, wobei sie jedoch meist nur ein Junges pro Jahr kriegen. Nach der Paarung im Herbst können die Samen der Männchen mehrere Monate in Eileiter und Gebärmutter der Weibchen überleben, sodass die Geburt dann erfolgt, wenn die äusseren Umstände günstig sind – im Sommer. 

Konträr zum Wetter, welches scheinbar immer weniger vorhersehbar wird, schwindet die Hauptnahrungsquelle der Fledermäuse, nämlich Insekten en masse, seit Jahrzehnten konstant. Dazu kommen in ländlichen Regionen die Belastungen durch Pestizide, verbaute Obstgärten und fehlende Hecken und Bäume, die die Fledermäuse als Dunkelkorridore und Jagdgebiete nutzen. In städtischen Gegenden sind es eher Licht- und Lärmemissionen, Umbauten an bestehenden Unterschlüpfen sowie neuartige Gebäude, die oftmals glatt und verschlossen gebaut werden, was es den Fledermäusen verunmöglicht, überhaupt erst einen Unterschlupf zu finden.


Auf Ausschau / im Heiligberg

Bei den Grossen Mausohren, die im Schulhaus Heiligberg leben, handelt es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um Nachfolgerinnen einer Kolonie, die bereits in der Kirche vom Chorherrenstift zuhause war, bevor sie 1908 dem Schulgebäude weichen musste. Seit die Schule im Jahr 1912 eröffnet wurde, haben die Fledermäuse mehr oder weniger durchgehend darin gelebt – bis auf 300 Individuen wurde der Bestand Mitte der 1950er-Jahre geschätzt, danach ging es tendenziell abwärts. Zeitweise wurden sie, wenn auch unbeabsichtigt, von grösseren Reparaturarbeiten und Antennen vertrieben – hatten zugleich aber auch Glück, dass es in den letzten Jahrzehnten immer wieder Menschen gab, die sich für fledermausfreundliche Massnahmen (wie die Installation einer Trennwand für die Antenne im Estrich, neu eingebaute Nischen und taubensichere Ein- und Ausflugslöcher) einsetzten, sodass die Grossen Mausohren wieder zurückkehren konnten. Nach einem leichten Anstieg bis zum Jahre 2010 ist die Population seither auf ungefähr 30 Tiere geschrumpft. 

«Obwohl ich bei ersten Rundgängen den Eindruck hatte, dass mehr Tiere als im Vorjahr zurückgekehrt waren, konnten wir bei der Ausflugszählung nur 23 Tiere beobachten. Es könnte sein, dass ein Teil der Tiere wegen der anhaltenden Kälte wieder weggezogen ist und erst später zurückkehren wird. Jedenfalls hoffen wir das», dokumentiert Gaby Stählin am 25. Mai 2021 im Wochenstuben-Logbuch auf der Webseite des Fledermausschutzes Winterthur. Seit fast zwanzig Jahren betreut sie als ehrenamtliche Fledermausschützende gemeinsam mit Reto Bai die Kolonie am Heiligberg. Das heisst: Seit fast zwei Jahrzehnten suchen sie im Frühjahr und Sommer die Hangplätze der Tiere auf, beurteilen ihren Zustand, kümmern sich um die kranken und geschwächten Tiere, entsorgen die verstorbenen, zählen bei Dämmerung, wenn die Fledermäuse ausfliegen, den Bestand. 

«Eigentlich bin ich überhaupt kein Nachtmensch», sagt Gaby von sich, als wir kurz nach 21 Uhr die Treppen zum Dachstock des Schulhauses hochsteigen. Dennoch komme sie immer wieder aufs Neue gerne zu den Fledermäusen im Heiligberg. Es ist jetzt Ende Juli, ein warmer Tag – es wäre gut, wenn es eine Weile so bleibt, meint sie. Dieses Jahr sei bis anhin belastend gewesen: sechs tote Jungtiere haben sie am 4. Juli vorgefunden, zwei weitere am 9., fünfzehn und ein erwachsenes Tier am 20., drei in der Vorwoche, eines davon sehr klein. An diesem Abend sind es «nur» zwei tote Jungtiere, die auf dem Boden des Dachstocks liegen.

Am einfachsten lassen sich die Hangplätze der Fledermäuse finden, indem man Ausschau nach frischem Kot hält – glitzert dieser im Schein der Taschenlampe, so handelt es sich dabei um das Chitin verspeister Insekten, was wiederum eindeutig auf Fledermäuse zurückzuführen ist. Leuchtet man dann hoch ins Gebälk, wird man mit etwas Glück fündig. Wir treffen als erstes auf ein einzelnes Tier, das ins Licht blinzelt. Ansonsten wirkt es aber unbeirrt von unserer Anwesenheit. Weitere Tiere und Grüppchen sind über den gesamten Dachstock verteilt, teilweise so dicht beieinander, dass es nicht möglich ist zu erkennen, wie viele es sind. Die Zählungen finden deshalb beim Ausflugsloch statt. Während die Fledermäuse beginnen, im Dachstock ihre ersten Runden zu fliegen, richten Gaby und Reto sich beim Beobachtungsfenster ein – mit einem Zähler und einem Batscanner, einem Gerät, das die Ultraschallrufe der Fledermäuse aufnimmt und auf menschliche Ohren abgestimmt wiedergibt. Kissen haben die beiden Fledermäusschützenden auch dabei: Das Ausflugsloch befindet sich über dem Fenster, sodass Nackenstarre so gut wie vorprogrammiert ist. Als es gegen 21:40 Uhr eindunkelt, fliegen die ersten Tiere aus dem Schulhaus – kleine, schnelle Schatten, die bald schon hinter dem Gebäude und zwischen den Bäumen verschwinden. Anfänglich sind die Fledermäuse mit ihren scheinbar erratischen Flugmustern vor dem Abendhimmel gut erkennbar, danach müssen wir uns auf die übersetzten Rufe aus dem Batscanner verlassen. «Heute kommen sie etwas zögerlich», bemerkt Gaby. Der Himmel wechselt von dunkelblau zu einem dunstigen, lichtverschmutzten Schwarzblau, Beleuchtungen in und an den Gebäuden gehen an. Um 22:00 Uhr erklingen mehrere Kirchenglocken. Das Geläute schwappt ineinander über, wird Chor, schaukelt sich hoch zum Dachstock vom Schulhaus Heiligberg. Bis zum Glockenschlag um 22:30 Uhr haben wir 27 Tiere ausfliegen gezählt – weniger als erwartet.


Auf Suche / in Rheinau 

«Empfindliche Tiere sind sie, die Fledermäuse», sagt Lea Morf, «und eigentlich haben sie schon genug Probleme.» Mit ebendiesen beschäftigt sich die Biologin, seit sie nach ihrem Studium begonnen hat, beim kantonalen Fledermausschutz zu arbeiten. Heute, zwanzig Jahre später, begeistert ihr Beruf sie immer noch.

Anfang Monat hat sie eine Meldung erhalten von einem Kollegen aus Deutschland. Er habe 40 Graue Langohren beim Ausflug beobachtet, sie mit einem Sender geortet und gehe nun davon aus, dass sie auf dem Gelände der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich in Rheinau ihre Wochenstube haben, genauer: in einem Dachstock. «Wir gehen jeder Meldung nach, die uns erreicht», erklärt Lea. In der Schweiz gibt es laut der Stiftung Fledermausschutz rund 900 ehrenamtliche Helfer*innen – ungefähr 350 davon im Kanton Zürich – die nebst dem, dass sie bestehende Kolonien betreuen und Aufklärungsarbeit leisten, auch Meldungen wie diese überprüfen. Graue Langohren sind sehr selten und vom Aussterben bedroht und werden schweizweit überwacht. Falls es sich hierbei wirklich um 40 Tiere dieser Art handeln sollte, wäre das eine der grössten Kolonien im Land – weshalb Lea an diesem Tag nach Rheinau fährt, um sich selber ein Bild zu machen. 
Die Klinik in Rheinau besteht aus mehreren sich ähnelnden Gebäuden, die vereinzelt auf dem weitläufigen Gelände stehen. Herr Polo vom Technischen Dienst begleitet uns zum besagten Dachstock – staubig ists hier, leer und trocken. Das Erste, was Lea auffällt: Es hat keinen Kot auf dem Boden. Ob hier kürzlich mal gewischt wurde? Laut Herrn Polo nicht. Okay, dann leben die Tiere vielleicht im Zwischen- oder Unterdach. Dagegen spricht jedoch, dass nichts zu hören ist: Bei Temperaturen wie heute würden die Fledermäuse jetzt, am Nachmittag, normalerweise «schnattern». Vielleicht sind sie also in einer anderen Ecke? Lea sucht den kompletten Dachstock ab, leuchtet zwischen die Balken hoch, in die Ecken, nichts. Sind wir im falschen Hausteil? Wahrscheinlich nicht, aber wir durchqueren trotzdem einen Trakt und finden uns in einem spiegelverkehrten Obergeschoss wieder. Dasselbe hier: weder Fledermäuse noch irgendetwas, was auf sie hindeuten würde. «Kann sein, dass sie einfach weg sind», sagt Lea, während sie mit ihrer Taschenlampe das Dach absucht, «manchmal lösen sich Kolonien auf, verschwinden.» Dieses Jahr seien bereits viele Jungtiere gestorben, vielleicht haben die ausgewachsenen Tiere ihr Sommerquartier deshalb verfrüht verlassen. Ein letzter Versuch: Vielleicht, möglicherweise, wer weiss – befinden wir uns im falschen Gebäude? Leas Kollege hat ein Bild geschickt, aber die Häuser der Klinik sind zum Teil identisch gebaut. Nach einem kurzen Spaziergang über das Areal befinden wir uns im Ebenbild des ersten Dachstocks wieder – der allerdings genauso fledermauslos ist wie die anderen zuvor. 

Zurück beim ersten Gebäude möchte Lea sich das Obergeschoss von aussen anschauen, die Giebel, die Regenrinnen, das Dachwerk. Eine Öffnung von 1,5 Zentimetern würde Grauen Langohren zum Rein- und Rauskommen reichen – vom Boden aus lässt sich trotz Feldstecher und Taschenlampe am Nachmittag nichts Eindeutiges erkennen. Ab August beginnen Fledermäuse, sich in ihre Herbstquartiere zurückzuziehen. «Um ein zweites Mal zurückzukommen und Ausschau zu halten, dafür reicht die Zeit wohl kaum», sagt Lea. 

«Mal schauen. Vielleicht haben wir nächstes Jahr mehr Glück.»


Weitere Infos
Zu allem, was mit Fledermäusen zu tun hat: www.fledermausschutz.ch & www.fledermausschutz-winterthur.ch

Aleks Sekanić ist Autorin und Redaktorin beim Coucou und interessiert sich unter anderem für Schwärme in Städten und das Schwinden der Jahreszeiten.

Jürgen Baumann ist eine Fledermaus. 

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