Lärm ist ein negatives Wort. Doch das muss es eigentlich nicht sein! Denn Lärm ist auch ein Zeichen für Leben, für Dynamik. Der oft gescholtene Begriff steht für Urbanität. Nicht als Ursache zwar, aber als Symptom. Ein Symptom, welches zu einem gewissen Masse zu akzeptieren, vielleicht gar zu würdigen ist, wenn man in einer urbanen Zone wohnt und lebt. Doch genau dort trifft der Lärm auf Schwierigkeiten...
Es ist der 16. Juni 2012, und der Zürcher Polizeivorsteher Daniel Leupi zitiert gerade Immanuel Kant: «Die Freiheit des einen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt.» In Zürich diskutiert er mit Jung und Alt über Lärm. Öffentlichkeit und Politik stehen gerade noch unter Eindruck der über 10'000 Tanzfreudigen, welche in der Berner Innenstadt gegen eine zu starke Reglementierung des Nachtlebens demonstriert hatten. Die grösste Jugendkundgebung in der Schweiz seit den 80er-Jahren!! Zwar geben sich einige Politiker Mühe, dem Anlass seine politische Sprengkraft abzusprechen, doch immerhin wird diskutiert. Über das Nachtleben; über mögliche Wege, auch diesem seinen Platz zu lassen; und über Lärmklagen.
Mai 2013. Fast ein Jahr später. Die Fragen sind geblieben. Der Sommer kommt, die nächste «Tanz dich frei»-Party in Bern ist bereits angekündigt und das Nachtleben wird wieder in den Fokus rücken. Auch in Winterthur. Denn auch hier stehen sich die Befürworter eines urbanen, lebendigen Raumes und deren Gegner gegenüber – mit dem Machtdispositiv auf der Seite der letzteren. Das Problem ist in allen Städten das gleiche: Es fehlen Instrumente, welche die Interessen des Lärms (Ausgänger) und die Interessen der Ruhe (Anwohner) zumindest auf die gleiche Ebene setzen.
Subjektive Lärmklagen
Die Nachtruhe in Winterthur geht von 22 Uhr (am Wochenende 23 Uhr) bis 6 Uhr morgens. Während dieser Zeiten ist laut Polizeiverordnung «jeglicher die Ruhe oder den Schlaf störender Lärm verboten». Und weiter: «Singen, Musizieren, lautes Diskutieren, Gejohle und dergleichen (...) im Freien ist während der Nachtruhe verboten.» Klagt ein Anwohner über Lärm, so hat die Polizei dem nachzugehen. «Wenn ein Anwohner sich beschwert, kann man nichts machen», sagt Sam Frey, Geschäftsführer des Albani. Und auch Stephan Lätsch vom Salzhaus, verweist auf das Gesetz: «Die Beschallung des öffentlichen Raumes ist verboten. Sobald also Geräusche nach aussen dringen, wäre dies theoretisch ein Klagegrund.» Ob es zu laut war, entscheidet derjenige, der sich in seiner Ruhe gestört fühlt.
In den Klubs sind die Lärmklagen merklich zurückgegangen: «In den letzten zwei Sommern gab es nur noch eine Klage», so Sam Frey. Und dennoch: «Die Angst, dass eine Person, die sich gestört fühlt, den Laden zumachen könnte, bleibt.» Ähnlich empfindet auch Benjamin Herzog vom Gaswerk Kulturzentrum: «Wenn eine Person den störenden Club neben sich unbedingt weghaben will, kann sie dass auch erreichen. Der Kläger sitzt am längeren Hebel.» Das Gaswerk hatte in der Vergangenheit immer wieder mit Lärmklagen zu kämpfen – häufig von einigen, wenigen Anwohnern. In letzter Zeit sind die Beschwerden jedoch zurückgegangen: 2012 kam es im Gaswerk nur zu wenigen Beanstandungen und auch das Salzhaus hatte «schon länger keine Probleme mehr». Dafür machen die Klubs auch etwas: Das Gaswerk pflegt einen persönlichen Austausch mit den Anwohnern und versucht die Anlässe umsichtig zu planen. Das Albani plant eine neue Aussentüre mit Blei-Platten und das Salzhaus hat beim Umbau ein Fumoir eingerichtet und den Eingang um die Ecke verlegt. Dadurch dringt weniger Lärm zur Strassenseite. Das grösste Problem sei nämlich, so berichten alle Klubs einhellig, nicht die Musik sondern die Lärmemission durch die Gäste welche vor dem Eingang stehen. Deshalb sorgen dort Securitys für Ruhe. Das geht aber ins Geld: «Die Sicherheitskräfte gehören zu den grössten Kostenpunkten», sagt Benjamin Herzog vom Gaswerk.
Das Problem mit den Leuten vor den Klubs hat sich – wie vorauszusehen war – durch das Rauchverbot akzentuiert. Will der Gast seine Zigi rauchen, muss er nach draussen. Und seit letztem Sommer muss er dies ohne sein Getränk machen. Die Polizei setzt das Getränkeverbot (dessen juristische Grundlage nicht unbestritten ist) rigoros um. Zu spüren bekam das auch das Kraftfeld: Letzten Herbst fuhr dort die Polizei mit vier Beamten ein und liess die unbediente Gartenbeiz räumen, wo die Gäste auch nach Mitternacht noch ihr Getränk konsumierten. «Wir verstehen nicht, warum plötzlich nicht mehr geduldet wird, was jahrelang kein Problem war», sagt Stephan Hayoz vom Kraftfeld. 15 Jahre störte die Gartenbeiz nach 24 Uhr die vorbeifahrende Polizei nicht und es gingen seither gerade mal drei Lärmklagen ein. Das Kraftfeld sieht sich nun gezwungen das Verbot zu akzeptieren. Bemühungen, der vorgängigen Praxis nun eine legale Grundlage zu verschaffen sind jedoch im Gange.
Das härtere Durchgreifen der Polizei hange mit den Problemen rund um das Ausgangsviertel am Bahnhof zusammen, sind sich Stephan Hayoz und Stephan Lätsch einig. Das Salzhaus arbeitet hier im Rahmen des AHAB (Aktionsplan Hauptbahnhof) mit der Polizei zusammen. «Der Kontakt ist viel intensiver und als besser als früher», wie Stephan Lätsch betont. Überhaupt streichen alle vier Klubs die im Grunde gute Zusammenarbeit mit der Polizei hervor. Man rede vor allem mehr zusammen als früher.
Es herrscht eine gewisse Ambivalenz: Auf der einen Seite hat sich die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Klubs verbessert, auf der anderen Seite herrscht doch dieses gewisse Gefühl, das ein Stück Freiheit verloren geht. «Es ist doch absurd, wenn man vor keinem Klub der Stadt nach 24 Uhr draussen mehr was trinken darf», sagt Stephan Hayoz. Und Benjamin Herzog konstatiert: «Die liberalen 90er Jahre sind leider vorbei.» Von Lösungsansätzen wie Urbanzonen – wo lockerere Regeln gelten sollen als in Wohnzonen – hält er dennoch nicht viel: In Winterthur seien die Kulturangebote natürlich gewachsen, es wäre traurig wenn man in Quartieren nicht mehr Nebeneinander existieren könnte. «Das Wichtigste ist sowieso, dass man miteinander redet, aufeinander eingeht. Das bringt am meisten.» Für Sam Frey vom Albani wiederum wären solche Urbanzonen durchaus sinnvoll: «Schlussendlich sind wir ja auch eine Studentenstadt und wollen für die Leute attraktiv sein. Man sollte zur Grossstadt stehen.»
Urbane Freiheit?
Tatsächlich wirbt die Stadt mit ihrem grossen kulturellen Angebot. Und wir sind stolz darauf, offiziell als Grossstadt zu gelten. Doch korreliert unser Verhältnis zum Lärm nicht mit diesem Anspruch. Dies ist zum einen ein gesetzliches Problem: Dass der Lärmkläger mit seiner Klage eigentlich gleich selbst den Tatbeweis erbringt, ist problematisch. Auch ist es ein Problem der Auslegung: Die fehlende Kulanz der Polizei ist ärgerlich. Vor allem aber ist das Problem aber ein gesellschaftliches. Denn am liebste hätten wir alles: Zentral wohnen, nahe beim Geschehen sein und dennoch Ruhe haben. Doch dies steht im Widerspruch zum urbanen Raum. Ruhe soll auch sein, gewiss. Doch lässt sich nicht jede Emission tilgen. Möchte man ein spannendes, attraktives Nachtleben, dann wird man auch Menschen haben die feiern wollen! Stehen wir zu diesem Lärm! Denn er ist normal. Dass heisst nicht, dass wir rücksichtslos sein dürfen. Denn Immanuel Kant hatte bezüglich Freiheit ja eigentlich (natürlich) schon recht. Das Problem ist nur, dass hier die eine Freiheit massiv höher gewichtet wird als die andere.