Winterthur ist tot. «Nein, so ein Quatsch!», wirst du jetzt denken. Der Satz provoziert, weil er für viele nicht stimmt. Und doch könnte kein anderer Satz die allgemeine Stimmung in der Winterthurer Kulturszene treffender beschreiben. Viele jammern, es sei nichts los in der Stadt. Kulturveranstalter versuchen sich, mehr schlecht als recht, mit Fronarbeit, Tiefstlöhnen und unbezahlten Überstunden in der Administration über Wasser zu halten. Interessieren tut das nur wenige.
Das Ausgehvolk betrinkt sich stattdessen lieber in den billigen Kommerzschuppen. Weil zu wenig Besucher kamen, hat die Coalmine im Herbst 2012 Konsequenzen gezogen und die Lesungen und Konzerte aus ihrem Veranstaltungsprogramm gestrichen. Auch andere Kulturhäuser haben in den letzten Jahren die Zahl ihrer Veranstaltungen reduziert. Zum Beispiel die von der Stiftung Sulzberg unterstützte Villa Sträuli, deren finanzielle Lage zurzeit nicht zum Besten steht. «Wenn es nicht gelingt, Sponsoren oder Gönner zu finden. Dann ist das Kapital, das der Villa Sträuli zur Verfügung steht, in zehn Jahren aufgebraucht», sagt die Leiterin Annelise Schmid.
Aufstrebende Winterthurer Künstler orientieren sich nach Zürich oder ziehen ins Ausland. Der Grund: Zu wenig relevante Ausstellungsmöglichkeiten, kaum Perspektiven, beschränkte Erfolgsaussichten. Oder wie Katharina Henking, als Künstlerin Mitglied der Künstlergruppe Winterthur und Präsidentin des Vereins Café des Arts, sagt: «Winterthur ist zwar schön zum Leben, aber kein Ort, der brodelt.» Die Möglichkeiten, die Kunstschaffende in Winterthur haben, seien begrenzter geworden, obwohl Potenzial vorhanden sei. Im Allgemeinen scheint es ihr, «dass in Winterthur die Visionen sowie der Mut zum Risiko und zum Überwinden von Grenzen fehlen und in vielem eine gewisse Mittelmässigkeit herrscht.»
Nur leere Worte
Winterthur ist tot. Dieser Satz war der Anstoss, die Kulturszene von Winterthur einmal genauer zu betrachten. Seit 2009 betont der Stadtrat immer wieder das neue Image der Stadt als «Kulturstadt». Eine Aussage, die angesichts des vielfältigen kulturellen Angebots auch berechtigt scheint. «Die Kultur ist ein massgebender Standortfaktor», sagte Michael Künzle – damals noch Kandidat für das Stadtpräsidium – im Sommer am Kulturpodium im Kulturzentrum Gaswerk. «Die Kultur verbindet und belebt», meinte Stadträtin Barbara Günthard-Meier. Und Yvonne Beutler strich heraus: «Die Kultur ist wichtig für das Zusammenleben in der Stadt.» Doch es waren alles Worte, die nichts darüber aussagen, ob und wie die Politiker Kultur zu fördern gedenken.
«Die kulturelle Vielfalt ist die Stärke der Stadt Winterthur», verdeutlichte der Stadtpräsident dann im Herbst 2012 die Bedeutung der Kultur für Winterthur beim «StadtTalk» in der Coalmine. Und betont: «Es gibt ein grosses Potential an Kunstwerken in der Stadt, die nur wenige kennen.» Mit dem grossen Potential spielt er auf die Sammlungen der Oskar-Reinhard-Stiftung und des Kunstmuseums an – beides Institutionen, die eine nationale oder gar eine internationale Ausstrahlung haben. Zudem gehören das Technorama und das Musikkollegium als eines der ältesten Orchester der Schweiz zu den Aushängeschildern der Stadt. Entsprechend werden diese Institutionen subventioniert: Knapp zwei Drittel von den 9,6 Millionen Franken, die jährlich zur Unterstützung von mehr als 20 Institutionen zur Verfügung stehen, gehen an das Technorama (540’000 Franken), den Kunstverein Winterthur (900’000 Franken) und das Musikkollegium (4,6 Millionen). Hinzu kommt, dass das Theater Winterthur als städtischer Betrieb acht Millionen Franken erhält. Dass dann ausgerechnet der Stiftungsrat des renommierten Orchesters im Frühling Sparmassnahmen ankündigte, weil es jährlich ein Defizit von 700’000 Franken verbucht, hat hohe Wellen geschlagen. Kann sich Winterthur ein professionelles Vollzeitorchester überhaupt leisten? Obwohl die Besucherzahlen nicht berauschend sind, zeigte sich kurz nach Ostern, dass der Wunsch nach einem renommierten Orchester noch immer besteht. Eine Petition mit über 7000 Unterschriften wurde eingereicht, die den Stadtrat aufforderte, dafür zu sorgen, dass Bestand und Qualität finanziell gesichert werden. Als «kulturellen Leuchtturm der Stadt», bezeichnete der ehemalige Stadtpräsident Ernst Wohlwend das Musikkollegium bei der Entgegennahme der Petition. Eine Erhöhung der jährlichen, städtischen Beiträge um 150’000 Franken wurden dem Orchester nun im Herbst zugesichert.
Drei Franken für einen Konzertbesuch
Stephan Lätsch, Präsident des Vereins Live Musik Kultur Winterthur (LMK), wies in einem Leserbrief im Landboten auf die etwas einseitige Polemik um das Musikkollegium hin. «Unser Engagement bleibt nur Randnotiz», schrieb der Präsident des LMK und Geschäftsführer des Salzhauses. Rund 300’000 Franken erhält der LMK jährlich und teilt den Betrag unter den vier Kulturlokalen Albani, Kraftfeld, Gaswerk und Salzhaus auf. Im Vergleich zu den Subventionen, die das Musikkollegium erhält, ist das wenig. Die vier LMK-Konzertlokale leisten mit jährlich 250 Konzerten – die Partys hinzugezählt, sind es sogar weit über 400 Anlässe pro Jahr – für 100’000 Besucher einen grossen Anteil zur Vielfalt der Kultur in Winterthur. Dass Alternativ- und Populärkultur im Vergleich mit der etablierten Hochkultur in einer «Kulturstadt», scheinbar zur Randnotiz verkommt, schmerzt die Betroffenen.
Das Bewusstsein für kulturelle Anliegen bei der Stadt und bei der Bevölkerung zu stärken, das ist das Ziel der Kulturlobby, zu der sich im April 25 Organisationen und Institutionen zusammengeschlossen haben. Laut Präsident Matthias Erzinger soll es eine offene Plattform sein. Bei den Stadtratswahlen im Sommer hatte die Kulturlobby die Kultur zum Thema gemacht. «Kulturpolitik spielt sonst kaum eine Rolle im Wahlkampf.» Mit der Kulturlobby soll sich dies nun ändern. Mit der offenen Plattform erhalten die Kulturinstitutionen eine neue poltische Stimme, die bei den neu auszuhandelnden Subventionsverträgen im Jahr 2013 von Bedeutung sein dürfte. Kulturpolitik sei reine Budgetpolitik, der es nur um Wachstum gehe, provozierte Pius Knüsel, der zurückgetretene Direktor von Pro Helvetia, in seinem umstrittenen Buch «Kulturinfarkt». Wie viel Kultur verträgt die Gesellschaft? Eine Frage, die man sich auch mal in Winterthur stellen kann. Wie viel kulturelle Vielfalt braucht die Stadt? In den letzten Jahren ist Winterthur zwar gewachsen, aber immer mehr zur Schlafstadt verkommen. Die Leute wohnen hier, arbeiten aber irgendwo anders und interessieren sich auch nicht sonderlich für das kulturelle Geschehen. Wie viele Kulturhäuser braucht es? Herrscht bereits ein Überangebot oder hat es zu wenig? Darüber darf und muss diskutiert werden. Denn Kultur soll die Gesellschaft zusammenbringen. Doch bei der Diskussion um die Kulturförderung scheint sie die Gesellschaft eher zu spalten.
«Weniger kann auch eine Chance sein»
Der neue Stadtpräsident Michael Künzle kündigte bereits an, dass man bei der Kulturförderung umdenken müsse, da die finanziellen Mittel knapp seien. Die bisher subventionierten Institutionen müssten aber nicht um eine Streichung der Beiträge bangen. Er wolle die Subventionen nicht kürzen, sondern effizienter verteilen. Denn gerade diejenigen, die weniger Mittel erhalten, seien oftmals innovativer. «Das kann auch eine Chance sein», betonte Künzle, der neu dem Departement für Kulturelles und Dienste vorsteht, am «StadtTalk» in der Coalmine. Bei den Museen möchte er vermehrt auf Kooperationen setzen. So wird nächstes Jahr unter anderem darüber abgestimmt, ob die Villa Flora vom Kunstmuseum übernommen werden soll.
In Bezug auf die Zusammenarbeit scheinen die Kulturinstitutionen dem Stadtrat etwas voraus zu sein. 18 Institutionen werden im Herbst 2013 ein zweimonatiges Festival zum Thema Kunst und Wissenschaft veranstalten. «Mit dabei sind die IG Kunstsammlung, die Kurzfilmtage und das Musikkollegium», verrät Urs Stahel, Leiter des Fotomuseum, das 2013 zudem sein 20 Jahr Jubiläum feiert. «Die Idee ist es, die Szene zu beleben und gemeinsam für das Image der Stadt zu werben.» Mit dem spartenübergreifenden Projekt der Kulturhäuser können so neue Akzente in der Kulturszene geschaffen werden. Mehr Informationen zum Projekt sollen im Dezember bekannt gegeben werden.
Spartenübergreifende Projekte sollten für die Kulturszene kein Problem darstellen. Denn in den letzten 16 Jahren ist die Szene in Winterthur stark gewachsen. Die Konzerthäuser Salzhaus und Kraftfeld und das Kulturzentrum Gaswerk wurden 1996 gegründet. Die Lichtspieltage und die Internationalen Kurzfilmtage wurden im gleichen Jahr ins Leben gerufen und gehören wie die Jungkunst oder die Musikfestwochen zu den Highlights des Jahres. Die Galerie Oxyd setzt in der Kunstszene einen Gegenpol zu den etablierten Sammlungen im Kunstmuseum. Aber auch die vor einem Jahr gegründete Galerie Knoerle und Baettig bringt frischen Wind in die Kunstszene und zeigt vor allem auch regionale Künstler.
Avantgarde nur im Tanz
Trotz lebendiger Szene und neuen Projekten kämpfen die Winterthurer Kulturinstitutionen gegen eine Kulturmüdigkeit an, die auch in anderen Schweizer Städten spürbar ist. Sinkende Besucherzahlen zwangen das Theater Winterthur zum Handeln. Ein Wechsel in der Leitung im Jahr 2009 und einige Programmänderungen zeichnen nun bereits erste Erfolge ab. 15’000 mehr Besucher konnten gewonnen werden – unter anderem weil das Kindertanztheater Claudia Corti in das Programm aufgenommen wurde. «Das Theater Winterthur ist ein klassisches Hochkulturhaus – etwas konservativ in der Ausrichtung, aber es zeigt beim Schauspiel europäische Topliga», sagt Marc Baumann. Das Theater Winterthur wolle das europäische Theaterschaffen repräsentieren. Nischenproduktionen werden nur noch vereinzelt gezeigt, dafür setzt das Theater vermehrt auf Produktionen für Junge und Familien. Aber auch dies nur in moderater Form: «Moderne, experimentelle Theaterprojekte will das Publikum nicht bei uns sehen», sagt Baumann. Dafür gehöre das Theater Winterthur zur Schweizer Avantgarde in der Tanzszene. «Hier sind wir die Nummer Eins».
Auch die Konzerthäuser bemerkten in den letzten Jahren einen Rückgang. Der Grund dafür sei aber, dass die Konkurrenz in Winterthur stark zugenommen habe, sagt Stephan Lätsch, Präsident des LMK. Zudem hat sich die Wertschätzung gegenüber kultureller Arbeit verändert. «Für Konzerte arbeiten viele Menschen, deshalb kostet es etwas», erklärt Michael Breitschmid, Programmmacher im Salzhaus. Doch das Publikum ist immer weniger bereit dafür zu zahlen. Um finanzielle Schwierigkeiten zu überwinden, ist der Club gezwungen, sein Programm neu zu definieren. Gewisse Bands können nicht mehr gebucht werden, weil die Verluste zu gross sind. «Allerdings wären genau diese Konzerte ‹Leuchttürme›, mit denen man in der Stadt ein Bewusstsein erarbeiten könnte. Für das bräuchte es allerdings Geld – und zwar für alle. «Grössere finanzielle Freiheiten bedeuten auch, dass eine grössere Vielfalt möglich ist», betont Breitschmid. Kultur scheint eine Wohlstandsfrage zu sein. Gratisevents, bekannte Produktionen in Theatern und Bands stehen beim Publikum hoch im Kurs. Kulturveranstalter passen ihr Angebot immer mehr dem Markt an. Verlustgeschäfte kann sich kaum noch eine Institution leisten. Was dabei verloren geht, wird erst im Rückblick klar. Dass Kultur, die lebt, auch Arbeit bedeutet, scheint vielen nicht bewusst zu sein. Winterthur ist nicht tot, aber es braucht viel Innovation, um mehr als mittelmässig zu sein.