Warum Tanz nicht nur schön ist

Warum Tanz nicht nur schön ist

Dem Tanz wohnt eine gesellschaftliche, philosophische sowie sozialkritische Dimension inne. Eine ästhetische Ausdrucksform, die unterhält, kritisiert und zum Nachdenken anregt.

Im Laufe der Zeit wurden dem Tanz die unterschiedlichsten Bedeutungen zugeschrieben. Vor religiösem Hintergrund wurden mit rituellen Tänzen Götter verehrt oder böse Geister vertrieben. Im 18. und 19. Jahrhundert etablierte sich der Debütantinnenball als gesellschaftlicher Brauch, um die Töchter der Aristokratie offiziell vor dem königlichen Hof vorzustellen. Seit dem Mittelalter wird mit Hochzeitstänzen der Beginn einer neuen Lebensphase zelebriert. Weiter wird der Tanz als künstlerische Ausdrucksform verstanden, als Umsetzung von Inspiration in Bewegung.

Diese ersten, groben Versuche, Tanz zu umreissen, machen deutlich: Ihm wohnt ein breites Bedeutungsspektrum inne. Er ist Ritual, Unterhaltung, Zeitverbrieb und Bühnenkunst zugleich.

 

Tanz als authentischer Ausdruck

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Tanz als Bühnenkunst revolutioniert. Die deutsche Choreografin Pina Bausch verband im Verlauf der 1960er- und 1970er-Jahre den Tanz mit Schauspiel und Performance und initiierte so die Geburtsstunde des Tanztheaters. Sie sprengte die Konventionen des klassischen Balletts und liess den eher an formalen Prinzipien orientierten, modernen Tanz hinter sich. Für Pina Bausch war das Tanzen weitaus mehr als die blosse Abfolge von rhythmischen Bewegungen. Sie versuchte damit eine passende Sprache für das Leben, das Alltägliche zu finden. Sie vereinte in ihren Choreografien das Ästhetische, das Poetische mit Alltagselementen und appellierte so an das Mitgefühl des Publikums.

 

Tanz als gesellschaftliche Kritik

In der gleichen Zeit setzte sich die amerikanische Choreografin, Tänzerin und Filmemacherin Yvonne Rainer mit dem Tanz auseinander. Sie hinterfragte seine Rolle als Unterhaltungsform und begann all ihre Choreografien aufs Wesentliche zu reduzieren. Die Bewegungen wurden immer neutraler und zweckbetonter, befreit von jeglicher Stilisierung, jeglichem Drama oder Glamour. Die Präsenz der Tänzerin oder des Tänzers war rein körperlich, rein objektiv. So versuchte Yvonne Rainer jeglichen Interpretationsspielraum, Identifizierungsversuch oder jegliches Mitgefühl zu unterbinden. 1965 schrieb sie ihr «No Manifesto». Darin entmystifizierte sie den Tanz und versuchte ihn so von gesellschaftlichen Klischees zu befreien. «Nein zum Spektakel» oder «Nein zur Verführung des Publikums» hiess es beispielsweise im Manifesto.

Yvonne Rainer machte ebenfalls explizit politische Performances. 1970 organisierte sie die «Street Action (M-Walk)», bei der 40 Personen mit synchronem Gang und hängenden Köpfen gegen die Invasion der Amerikaner in Kambodscha demonstrierten. So wurde eine vordefinierte Abfolge von Schritten – eine Choreografie – sowie der eigene Körper für Protestzwecke eingesetzt. Yvonne Rainer machte damit den Tanz zu einem ideologischen und sozialkritischen Projekt.

Auch in zeitgenössischen Aufführungen ist dieser sozialkritische Charakter noch immer präsent. Ein aktuelles Beispiel ist die solodanza Produktion «BEHIND THE LINE___» der Winterthurerin Jacqueline Pasanisi, welche im April im Theater am Gleis aufgeführt wurde. «BEHIND THE LINE___» ist eine Tanzaufführung mit performativen Elementen, die einen dokumentarischen Blick auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik wirft. In der Aufführung werden zwei sich gegenüberstehende Positionen dargestellt: Der Asylsteller und der Beamte. Machtlosigkeit und Macht, Verzweiflung und Gleichgültigkeit, Armut und Wohlstand. Die zwei sich gegenüberstehenden Fronten werden ohne Erklärung oder Moral in den Raum gestellt. So bleibt es dem Publikum überlassen, darüber zu urteilen.

 

Tanz als existentielle Reflektion

Neben einer gesellschaftskritischen Funktion kann Tanz aber auch ein Medium existenzieller Reflektion sein. Die Aufführung «Be-coming: Auf der Suche nach der ersten Bewegung» im Theater am Gleis setzt sich im Juni mit der eigenen Identitätsfindung auseinander sowie mit der Frage, wo eigentlich unser Menschsein beginnt. Die zwei Tänzerinnen und Choreografinnen Helena Nicolao und Anka Sedlackova untersuchen gemeinsam mit der Schauspielerin Alexandra Sommerfeld das Spannungsfeld zwischen Sein und Werden, zwischen «be» und «coming». Damit werden in «Be-coming» die vorgeburtliche Identität, die individuelle Sinnfindung und kulturelle Prägung angesprochen. Denn gemeinhin wird ab acht Wochen nach der Zeugung von einem menschlichen Wesen gesprochen. Doch bereits ab der «Stunde null» folgen die ersten sich teilenden Zellen Impulsen von Vibration und Rhythmus. Diese ordnenden Prinzipien bleiben in den Körperzellen verankert. So setzt sich die Aufführung mit der Frage auseinander, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf unser heutiges Leben hat. Bei «Be-coming: Auf der Suche nach der ersten Bewegung» wird nach Parallelen zwischen den allerersten Strukturen und dem aktuellen Gefüge des privaten oder sozialen Lebens gesucht. Das Gefundene wird anschliessend in Bewegung und Sprache umgesetzt.

 

Die Herausforderung

Tanz ragt über religiöse und konventionelle Bedeutungen hinaus und steht als Bühnenkunst immer wieder vor neuen Herausforderungen. Jedoch wird er oft «mit traditionellen Klischees in Verbindung gebracht oder mit dem Bild des klassischen Balletts gleichgestellt», so Jacqueline Pasanisi von solodanza. So stehen zeitgenössische Tanzprojekte vor der Herausforderung, neue Perspektiven auf das Genre zu eröffnen und gleichzeitig die notwendige Vermittlungsarbeit zu leisten, dass Tanz eben ästhetischer Ausdruck, gesellschaftliche Kritik oder existentielle Reflektion zugleich sein kann.

 

 

Interview mit Jacqueline Pasanisi von solodanza

Mittwoch, 10. Mai um 18 Uhr

Radio Stadtfilter

www.stadtfilter.net

 

«Be-coming: Auf der Suche nach der ersten Bewegung»

Premiere am 23. Juni

Vorstellungen am 24. und 25. Juni

Theater am Gleis

Untere Vogelsangstrasse 3

www.theater-am-gleis.ch

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