Konrad Bittleri

Von St. Gallen in die Velostadt Winterthur

Seit Anfang Juli ist Konrad Bitterli der neue Direktor am Kunstmuseum Winterthur. Ein Gespräch über seine neue Herausforderung und darüber, inwiefern sich St. Gallen von Winterthur unterscheidet.

Lächelnd und im hellblauen T-Shirt mit der Aufschrift «Brave Lonesome Cowboy» empfängt mich Konrad Bitterli im Eingangsbereich des Oskar Reinhart – und bietet mir sogleich das «Du» an. Seit Anfang Juli ist Konrad Bitterli der neue Direktor des Kunstmuseums. Gemeinsam gehen wir die Treppe hinauf in den ersten Stock und setzen uns auf die gepolsterte Bank in der Mitte des Galerieraumes – dort, wo es sich üblicherweise die Besucherinnen und Besucher gemütlich machen und die Gemälde auf sich wirken lassen. Umgeben von den alten Meistern, beginnen wir unser Gespräch.

Giulia Bernardi: Konrad, wie kam es eigentlich zur Entscheidung, vom Kunstmuseum St. Gallen nach Winterthur zu wechseln?

Konrad Bitterli: Ich war über 20 Jahre am Kunstmuseum St. Gallen tätig, zunächst als Kurator und anschliessend als stellvertretender Direktor. Dort hatte ich eine wirklich tolle Zeit: Ich durfte spannende Ausstellungsprojekte realisieren und mit einem motivierten Team zusammenarbeiten. Alles Dinge, die eigentlich nicht für einen Wechsel sprechen. Allerdings haben das Kunstmuseum Winterthur als auch das Oskar Reinhart solch einzigartige Sammlungen, dass ich der Verlockung nicht widerstehen konnte. Ausserdem bin ich in einem Alter, in dem man sich überlegt, ob man bis ans Ende seiner Berufstätigkeit am selben Ort bleiben oder doch eine neue Herausforderung annehmen soll. Ich habe mich für Letzteres entschieden.

GB: Du bist zu einem spannenden Zeitpunkt nach Winterthur gekommen: Das neue Museumskonzept, welches vorsieht, das Kunstmuseum, das Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten und die Villa Flora zusammenzuführen, wird ja gerade umgesetzt.

KB: Die Möglichkeit, an diesem Konzept mitzuwirken, ist tatsächlich sehr spannend, auch aus strategischer Sicht. Es gilt herauszufinden, wie wir uns als einheitliche Institution neu positionieren und dementsprechend unsere Inhalte neu definieren. Das bietet eine riesige Spielwiese für spannende Ausstellungsprojekte.

GB: Welche Chancen bringt die Zusammenführung dieser drei Institutionen mit sich?

KB: Der Zusammenführung wohnt ein unheimliches Potential inne, denn durch sie arbeiten die Museen nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander. Sowohl das Kunstmuseum als auch das Oskar Reinhart am Stadtgarten beherbergen tolle Sammlungen, die sich auf eine sehr raffinierte Art und Weise ergänzen. Das neue Museumskonzept bietet beiden Institutionen die Möglichkeit, über die eigene Museumsgrenze hinaus zu agieren.

GB: Wie genau stellst du dir das vor?

KB: Die Sammlungen der beiden Institutionen unterscheiden sich sehr voneinander. Während sich diejenige von Oskar Reinhart auf Kunst aus Deutschland, Österreich und der Schweiz vom 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts konzentriert, umfasst die Sammlung des Kunstmuseum Winterthur Werke vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, mit Schwerpunkt auf der klassischen Moderne. Doch was passiert, wenn verschiedene Epochen miteinander in einen Dialog treten? Was geschieht, wenn beispielsweise Kaspar David Friedrichs berühmter «Kreidefelsen auf Rügen» von 1818 plötzlich Gerhard Richters «Wasserfall» von 1997 gegenübergestellt wird? In einem solchen Dialog entsteht etwas Neues: Die Betrachterinnen und Betrachter werden von der Gegenwart in die Vergangenheit katapultiert und umgekehrt. Dabei stehen nicht die Stilgeschichte, sondern epochenübergreifende Inhalte im Vordergrund. Es ist wichtig, dass ein solcher Dialog stattfindet. Der Künstler Francis Picabia hat ja nicht umsonst gesagt: «Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann».

GB: Trifft das auch die Erwartungen des Publikums?

KB: Ich denke schon. Es geht ja darum, die Menschen an der Kunst teilhaben zu lassen, ihnen Zugänge zur Kunst zu verschaffen – auch einem jüngeren Publikum. Oft werden Museen als elitär und hermetisch wahrgenommen. Diese Vorstellung möchte ich revidieren und das Museum mehr öffnen, zugänglicher machen.

GB: Hast du den Eindruck, dass du dich mit dieser Haltung von derjenigen von Dieter Schwarz unterscheidest?

KB: Absolut – allerdings nicht, was den künstlerischen Anspruch anbelangt. Für mich ist Kunst etwas, das im Dialog mit Menschen stattfindet, denn jeder kommt mit seinem individuellen Rucksack, mit seinen individuellen Erfahrungen daher. Jemand mit Migrationshintergrund schaut Friedrichs «Kreidefelsen auf Rügen» anders an als jemand, der hier geboren und aufgewachsen ist. Kunst ist keine hermetische Kommunikation im neutralen Ausstellungsraum. Da unterscheidet sich meine Haltung von derjenigen, die bisher in Winterthur geherrscht hat.

GB: Inwiefern unterscheidet sich dein Führungsstil von demjenigen deines Vorgängers?

KB: Dieter Schwarz ist eine sehr prägende Persönlichkeit. Er war 27 Jahre Direktor des Museums. Das hat das Museum natürlich bestimmt – auch im Umgang mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ich versuche, die Angestellten nach Möglichkeiten einzubeziehen. Das liegt natürlich auch daran, dass ich neu am Kunstmuseum und am Museum Oskar Reinhart bin und viel von meinen neuen Kolleginnen und Kollegen lerne. Es ist mir wichtig, meinen Mitarbeitenden gewisse Freiräume zu geben und sie so auch zu motivieren. Das ist eine Erfahrung, die ich aus St. Gallen mitbringe. Wir haben viel im Team gearbeitet: Einige Ausstellungen habe ich mit den anderen Kuratorinnen und Kuratoren umgesetzt. Letztlich geht es darum, das Museum als Institution zu stärken und gemeinsam vorwärtszubringen: Direktorinnen und Direktoren kommen und gehen. Da muss man auch etwas Bescheidenheit zeigen.

GB: Für deine neue Stelle bist du sogar nach Winterthur gezogen.

KB: Das ist so. Ich habe mir sogar ein Velo gekauft! (lacht) Das hatte ich in St. Gallen nie. Dort war es mir viel zu hügelig.

GB: Inwiefern unterscheiden sich Winterthur und St. Gallen kulturell voneinander?

KB: Obwohl die beiden Städte nicht weit auseinander liegen, spürt man doch kulturelle Unterschiede. In St. Gallen ist das Stadttheater, historisch bedingt, von grosser gesellschaftlicher Bedeutung. Museen haben nicht ganz denselben Stellenwert. In Winterthur scheint mir das aufgrund meiner ersten Beobachtungen etwas anders: Hier bekommen Museen deutlich mehr Anerkennung. Zudem ist der Sog von Zürich in St. Gallen deutlich geringer – was natürlich geografisch bedingt ist. Viele Künstlerinnen und Künstler zieht es nach Zürich. Selten ist es umgekehrt.

GB: Gibt es auch kulturpolitische Unterschiede zwischen den beiden Städten?

KB: Auf jeden Fall. In St. Gallen arbeiten die Stadt und der Kanton kulturpolitisch nicht derart eng zusammen. Das ist ineffizient und hat natürlich Folgen für das kulturelle Leben, gerade auch in der Stadt St. Gallen. In Winterthur, so scheint mir, funktioniert diese Zusammenarbeit entschieden besser. Kanton Zürich und Stadt Winterthur stimmen sich ab, wie beispielsweise beim Museumskonzept. In St. Gallen wäre ein solches Konzept so nicht zustande gekommen. Ausserdem weist der Kanton St. Gallen kulturell unheimliche Defizite auf. In den letzten Jahren wurde zwar viel geleistet, aber es gibt trotzdem noch einiges aufzuholen. Auch diesbezüglich ist der Kanton Zürich besser aufgestellt.

GB: Wie nimmst du das Publikum von St. Gallen und Winterthur wahr? Gibt es dort Unterschiede?

KB: Das Publikum habe ich an beiden Orten als sehr interessiert und neugierig wahrgenommen. Was mir in Winterthur speziell aufgefallen ist: Jedes Museum hat sein eigenes Publikum, seinen eigenen Kreis von Freunden. Beispielsweise überschneiden sich die Besucherinnen und Besucher des Kunstmuseums nicht vollständig mit denen des Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten. Dies wird im Rahmen des neuen Museumskonzepts eine grosse Herausforderung sein.

GB: Was wird deine erste Ausstellung in Winterthur sein?

KB: Eine Ausstellung mit einer jungen Künstlerin. Diese wird Anfang des nächsten Jahres stattfinden. Mehr möchte ich noch nicht verraten.

GB: Wieso denn ausgerechnet eine Künstlerin?

KB: In den letzten Jahren wurden wenige Künstlerinnen gezeigt. Dieter Schwarz hat sich intensiv mit der Generation von Minimal und Postminimal Art beziehungsweise Arte Povera beschäftigt, oft eine männlich geprägte Kunst. Ein männlicher Blick auf eine sehr männliche Kunst, wenn man es ein wenig salopp formulieren will. Darum habe ich mich bewusst für eine junge Künstlerin entschieden

Konrad Bitterli hat Anglizistik, Kunstgeschichte und Germanistik an der Universität Zürich studiert. Ab 1989 war er als Kurator am Kunstmuseum St. Gallen tätig und ab 2009 als stellvertretender Direktor. Seit Juli 2017 ist er Direktor am Kunstmuseum Winterthur und am Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten.

Das Interview mit Konrad Bitteli ist ebenfalls in der Oktober-Ausgabe des Kulturmagazins Saiten abgedruckt.

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