Worte für Winterthur

Worte für Winterthur

Barbara Tribelhorn und Ramona Früh setzen sich mit zwei Literaturreihen für die Szene ein. Hat es in Winterthur überhaupt Platz für so viel Literatur?

In diesem Jahr feiert die «Literarische Vereinigung Winterthur» ihr hundertjähriges Bestehen. Trotz Turbulenzen in ihrer Entstehungsgeschichte hat sie ihr Ziel nicht aus den Augen verloren: Der Literatur eine angemessene Plattform in Winterthur geben. Um direkte Begegnungen mit zeitgenössischen Autorinnen und Autoren zu ermöglichen, organisiert die Co-Präsidentin Barbara Tribelhorn zusammen mit dem Vorstand Lesungen mit den Schreibenden. Ihre eher klassischen Lesungen finden seit 2011 in der Coalmine statt, die mit der 17 Meter langen Suhrkamp-Bücherwand einen passenden Ort für Gespräche über Literatur bietet. Seit bald drei Jahren gibt es in Winterthur aber noch ein anderes grosses Literaturprojekt. Ramona Früh gründete die Literatur- und Spoken-Word-Reihe «lauschig», wofür sie Openair-Lesungen mit Musik in Winterthurer Gärten organisiert. Über die Sommermonate verteilt finden sieben Open-Air-Lesungen und -Spoken-Word-Performances statt, wobei pro Abend mindestens zwei Autorinnen und Autoren zu Gast sind.

 

Wieso hast du dich dafür entschieden, «lauschig» zu gründen?

Ramona Früh (RF): Ich hatte schon länger die Idee, ein eigenes Projekt auf die Beine zu stellen und hatte das Gefühl, dass gerade im Bereich Literatur in Winterthur noch nicht so viel Innovatives angeboten wird. Es gab lediglich die Wasserglaslesungen, also klassische Autorenlesungen ohne Performance. Während einer Diplomarbeit erstellte ich ein Konzept eines Literaturfestivals, welches ich anschliessend etwas abänderte, um die vielen schönen Parks und Gärten in Winterthur miteinzubeziehen.

 

In der Literaturszene ist das Durchschnittsalter des Publikums relativ hoch. Da seid ihr mit euren Literaturreihen keine Ausnahme. Wollt ihr gar keine Jungen ansprechen?

RF: Das wollen wir schon, und das war auch von Anfang an die Idee. Deshalb organisieren wir beispielsweise auch Spoken-Word-Abende, an denen das Publikum deutlich jünger ist. Pro Abend haben wir im besten Fall auch immer zwei Gäste, die unterschiedlich bekannt und sich nicht allzu ähnlich sind. Beispielsweise einen jungen Nachwuchsautoren und einen bekannteren Autor, der meistens auch etwas älter ist. Das ist für das Publikum spannend und für die Autorinnen und Autoren selbst auch.

Barbara Tribelhorn (BT): Ihr habt durch die Musik und Moderation auch diese Interdisziplinarität bei «lauschig». Das ist bei uns in der Literarischen schon anders. Wir sind viel näher an der klassischen Wasserglaslesung, wie man so schön sagt. Aber wir beobachten das auch: Je jünger der Gast, desto jünger das Publikum. Wir haben aber auch eine andere Geschichte als Verein mit Mitgliedern. Diese sind uns sehr treu und begleiten uns schon lange.

 

Die Literarische hatte aber auch schon mehr Mitglieder.

BT: Ja, aber ich denke, das hat nichts mit unserer Vereinigung oder unserem Programm zu tun, sondern einfach damit, dass die Leute heute nicht mehr Mitglied sein wollen, um sich nicht verpflichten zu müssen. Das entspricht wohl dem Zeitgeist. Sie entscheiden lieber spontan und profitieren dann einfach nicht von den pekuniären, also finanziellen Vorteilen der Mitgliedschaft. Weniger Publikum haben wir an unseren Lesungen deshalb aber nicht. Ganz im Gegenteil!

 

Also habt ihr an euren Anlässen eher Platzprobleme?

BT: Nein, das nicht gerade. Mit der Coalmine haben wir aber einen einzigartigen Austragungsort, der in unsere Geschichte und Tradition passt und einen intimen Rahmen schafft, der sowohl vom Publikum als auch von den Autorinnen und Autoren sehr geschätzt wird. Wenn wir aber ausnahmsweise einen grossen Ansturm erwarten, weichen wir auf einen anderen Veranstaltungsort aus. Denn natürlich müssen wir auch die feuerpolizeilichen Auflagen einhalten.

RF: Unser grösstes Problem ist der Schlechtwettersaal. Es ist schwierig, einen Saal zu finden, den man sieben Mal reservieren kann und dann vielleicht gar nie braucht. Mit der Giesserei haben wir glücklicherweise so solchen Saal gefunden. Der ist aber leider nur für 180 Leute. Das gibt uns dann den Rahmen vor, obwohl es in den Gärten und Parks natürlich mehr Platz hätte. Teilweise ist es für die Leute auch nicht ganz nachvollziehbar, wenn wir sagen, dass eine Lesung ausverkauft sei. Das ist schwierig zu kommunizieren.

 

Ist Literatur zurzeit wieder im Kommen?

BT: Meine persönliche Wahrnehmung ist, dass sich die Leute in ihrem Leben eher wieder eine Konstante suchen, etwas Kontemplatives. Das trifft auf die Literatur natürlich zu. Und Lesen ist etwas, wobei man sich persönlich weiterentwickeln und -bilden kann. Sobald die Leute merken, dass sie durch Literatur ihre eigenen Welten erschliessen können, sind sie begeistert.

RF: Ich habe einen zu kleinen Erfahrungswert, um sagen zu können, ob die Literatur tatsächlich wieder beliebter wird. Aber ich habe das Gefühl, dass man wieder mehr Schweizer Literatur liest. Man hat wahrgenommen, dass es auch hier eine lebendige Literatur- und Autorenszene gibt. Nicht zuletzt durch das Literaturinstitut in Biel wird diese auch gefördert.

BT: Dazu kommt, dass Schweizer Literaten auch die Tradition haben, sich politisch zu äussern. Gerade in Zeiten des Populismus werden sie wieder gewichtiger und in der Gesellschaft stärker wahrgenommen.

 

Habt ihr überhaupt noch neue Ideen für euer Programm?

BT: Natürlich. Die zeitgenössische deutsche Literatur fängt ja immer den Zeitgeist auf. Und wir können den aufgreifen, indem wir klug programmieren und genau diese Autorinnen und Autoren einladen. Wir haben vielleicht ein etwas angestaubten Namen, aber der ist gut und richtig.

RF: Aber das Format ist bei euch ja schon immer dasselbe.

BT: Ja, mit einigen Ausnahmen. Aber eigentlich braucht es gar nichts anderes. Ich bin der Meinung, dass die Autorinnen und Autoren, die zu uns kommen, die Ruhe brauchen, um sich zu konzentrieren.

 

Und welcher von euren Wegen ist nun der richtige, um Literatur zu vermitteln?

BT: Eigentlich sind es nicht unterschiedliche Wege, sondern einfach unterschiedliche Konzepte, die sich ergänzen. Winterthur kann davon nur profitieren. Wir kommen uns ja nicht in die Quere. Wir besprechen uns immer, wenn wir unsere Programme geplant haben und arbeiten beide sehr transparent dem Anderen gegenüber. Es lohnt sich ja auch nicht, uns gegenseitig das Wasser abzugraben. Das tut keinem gut. Wir von der Literarischen freuen uns auch über die Vervollständigung über die Sommerpause hinweg, die Ramona mit «lauschig» übernimmt. Und der Erfolg gibt uns ja recht, wir sind beide oft ausverkauft.

RF: Mit meinem Projekt bin ich ja zu einer bestehenden Szene gestossen. Mir war klar, dass mein Angebot anders sein muss. Das wollte ich ja auch. Und dass wir gerade die Zeit überbrücken, in der viele Kulturangebote Sommerpause machen, war natürlich schon auch geplant.

 

Ramona, du planst mit «lauschig» jeweils ganze Events und nicht nur eine Lesung. Bedeutet das, dass Literatur alleine nicht ausreicht, um die Leute abzuholen?

RF: Ich frage mich, wieso man überhaupt an eine Lesung geht. Man kann ja selber lesen. Deshalb habe ich auch persönlich den Wunsch, dass um die Lesung herum noch mehr angeboten wird. Es geht auch um die spannenden Begegnungen mit den Autorinnen und Autoren. Was sind das für Menschen, die Bücher schreiben und wie ticken sie? Wie klingt es, wenn jemand aus seinem eigenen Buch vorliest?

BT: Ja, die teilweise ihre eigenen Texte nicht lesen können.

RF: Und sich ganz anders verhalten als man sich das vorgestellt hat. Das Buch ist das eine, der Auftritt das andere. Und gerade an den Spoken-Word-Abenden steht die Performance im Mittelpunkt, da gibt es oft ja gar kein Buch.

 

Aber dafür braucht es ja keinen Garten.

RF: Es gibt so viele Lesungen in Bibliotheken oder Buchhandlungen, das finde ich einfach langweilig. Bei uns schätzen das Publikum und die Autorinnen und Autoren diese wunderschönen Gärten sowie die Atmosphäre, die musikalische Umrahmung. So kommen auch viele Leute, die nicht unbedingt literaturaffin sind und die Autoren nicht kennen, durch ein solches Erlebnis aber einen Zugang finden.

BT: Genau, oder vielleicht kommt noch der Gärtner dieses Gartens mit seiner Familie, das finde ich cool. Auch bei uns ist die Lesung nicht der ganze Anlass. Man erfährt Dinge über die Geschichte oder die Autorin, den Autor, die über den Inhalt des Buches hinausgehen. Wie hört der Autor seine eigenen Texte? Und sind die Autoren so, wie man sie sich vorstellt?

 

Hat bei «lauschig» die Natur auch eine inhaltliche Bedeutung?

RF: Am Anfang wollten wir, dass sich die Literatur und die Natur ergänzen. Bei der ersten «lauschig»-Lesung hat Peter Stamm nur Texte zum Thema Garten gelesen. Aber wir haben gemerkt, dass das etwas zu viel gewollt war und sich die Idee auf Dauer nicht realisieren lässt. Das wäre eine zu starke Einschränkung in der Programmierung.

BT: Ich finde es interessant, dass ihr das zu Beginn angedacht habt und euch dann aber dagegen entschieden habt. So wächst man auch an dem, was man macht.

 

Welche Rückmeldungen erhält ihr von den Autorinnen und Autoren?

RF: Für die meisten sind unsere Lesungen etwas total Neues. Viele hatten noch nie eine Lesung im Freien. Sie geniessen es deshalb, einmal in einer solchen Atmosphäre aufzutreten.

BT: Das verstehe ich auch, wenn man immer dasselbe machen muss. Bei uns schätzen die Autorinnen und Autoren vor allem die persönliche Betreuung, den intimen Rahmen und dass sie auch Teil unserer langen Tradition werden. Sie sagen auch, dass sie unser Kennerpublikum schätzen. Es sind oft sehr belesene Leute, die herausfordernde und spannende Fragen stellen. Die Autorinnen und Autoren wissen: Da ist ein versiertes Publikum, das sich explizit mit ihrem Werk befasst hat.

 

Was motiviert euch, für diese Kulturprojekte so viele Stunden auf freiwilliger Basis zu arbeiten?

BT: Ich bin eigentlich Bibliothekarin und habe dann bei der Literarischen begonnen. Über viele Literaturprojekte und Programmkommissionen bin ich dann zum Studium Kulturmanagement gekommen. Inzwischen arbeite ich hauptsächlich im Kaufleuten Kultur und mache nur noch Kulturveranstaltungen. Ich werde nicht vergessen, wo ich begonnen habe und wohin mich die Literarische gebracht hat. Das ist meine Motivation. Ich investiere gerne viel Zeit und Engagement und zwar so lange, wie ich kann.

RF: Ich arbeite für «lauschig» inzwischen in einem 30 Prozent Pensum und das aber nicht ganz ehrenamtlich. Für mich ist die grösste Motivation, dass es mein eigenes Projekt ist. Und wenn es dann erfolgreich ist und so viele Leute kommen, die zufrieden sind.

 

Was wollt ihr mit den Literaturreihen erreichen?

BT: Mein Ziel ist unter anderem die Bewahrung des Status Quo. Ich möchte die schöne Tradition der Literarischen weiterführen und sie durch die Zeiten der Digitalisierung bringen.

RF: Ich habe ganz viele Ideen, die ich gerne umsetzen würde, wenn ich Zeit hätte. Zum Beispiel «lauschig» an andere Ort in der Schweiz zu bringen.

BT: Wirklich? Würdest du dann das Projekt abgeben?

RF: Das weiss ich nicht, das wäre dann die grosse Frage. Man bräuchte jemanden vor Ort, der das mit genau so viel Herzblut durchführen würde.

 

Worauf freut ihr euch dieses Jahr in euren Programmen am meisten?

RF: Mich hat das neue Buch «Und was hat das mit mir zu tun» von Sacha Batthyany sehr beeindruckt. Einerseits wegen des Themas und andererseits wegen der Verflechtung der verschiedenen inhaltlichen Ebenen. Er kommt zum «lauschig»-Saisonfinale am 1. September, darauf bin ich sehr gespannt. Aber eine leichte Sommerlektüre ist es nicht.

BT: Das erste Programm der Literarischen in diesem Jahr läuft bereits. Obwohl die Gäste der Herbstsaison noch nicht bekannt sind, kann ich sagen, dass ich mich auf die Finissage des Jubiläumsjahres sehr freue. Dieses hat mit Peter Stamm begonnen und wird mit Thomas Hürlimann anfangs Dezember enden.

 

Lesungen im Juni und Juli

 

Paul Nizon – «Das Leben ist zu verlieren oder zu gewinnen» und  «Schreiben ist Leben»

Freitag, 16. Juni, 19:30 Uhr

Eintritt: CHF 20/10

Coal Mine, Trunerstrasse 1

 

Julya Rabinowich – «Krötenliebe»

Montag, 26. Juni, 19:30 Uhr

Eintritt: CHF 20/10

Coal Mine, Trunerstrasse 1

 

www.dieliterarische.ch

 

 

lauschig und eigen mit Tim Krohn,

Julia Weber und Vera Kappeler

Samstag, 17. Juni, 19:30 Uhr

Eintritt: CHF 25/20

Park der Villa Jakobsbrunnen

Schwalmenackerstrasse 4

 

lauschig und pointiert mit Fatima Moumouni,

Laurin Buser und Pamela Méndez

Donnerstag, 29. Juni, 19:30 Uhr

Eintritt: CHF 25/20

Rosengarten, Hochwachtstrasse

 

lauschig und licht mit Anja Kampmann,

Simone Lappert, Jens Nielsen,

Julian Sartorius und Michael Flury

Mittwoch, 12. Juli

1. Spaziergang um 17:30 bis 19:15 Uhr

2. Spaziergang um 19:45 bis 21:30 Uhr

Eintritt: CHF 25/20

Park der Sammlung Oskar Reinhart

«Am Römerholz», Haldenstrasse 95

 

www.lauschig.ch

 

 

 

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