Theatertrip in das Schattenreich

«Höll/Naraka» ist eine grenzüberschreitende Theatercollage: Zusammen mit dem Hao Theater aus Taipei erforscht Florian Helg die Höllenwelten zweier Kulturen.

Furchterregende Kreaturen und teuflische Wesen, die Sünder zu Tode quälen: Manche werden aufgespiesst, andere zwischen Felsen zermalmt, mit glühenden Zangen traktiert, von wilden Tieren angefallen oder in grossen Kesseln gegart. Fantasievoll und ideenreich sind die Höllenwelten von Hieronymus Bosch, der die Vorstellung der Hölle im Westen nachhaltig prägte. Shanshan Wu mag die düsteren Darstellungen des niederländischen Renaissance-Malers. Die Vorstellung von der Hölle im Westen sei ausserdem ganz ähnlich wie diejenige von der taiwanesischen Hölle, erklärt die Theatermacherin aus Taipei: die Hölle als Ort für Sündige, an dem über sie gerichtet, an dem sie bestraft werden – bevölkert von Dämonen und dem Teufel.

 

Zwar spielt im Buddhismus die Vorstellung von der Hölle, Naraka genannt, nur eine untergeordnete Rolle. Doch wie in der «westlichen Hölle» gibt es auch hier einen Richter, der darüber bestimmt, wie lange eine Sünderin oder ein Sünder Qualen in der Hölle erleidet, bevor sie oder er auf einer höheren Ebene wiedergeboren wird. Und ähnlich wie in Hieronymus Boschs Bildern gibt es spezielle Höllenbereiche für Sünder, wie etwa der Blutsee.

 

Ein zwischenmenschlicher Dialog

«Höll/Naraka» bringt jedoch nicht die Hölle der Qualen auf die Bühne des Theaters am Gleis. Im Gegenteil: Shanshan Wu hat zusammen mit dem Winterthurer Florian Helg eine eigene Hölle konzipiert, die weder dem Osten noch dem Westen zugehört. Die beiden Theatermachenden verbinden das kulturelle Erbe Taiwans mit der Schweiz und schaffen so einen Ort, wo sich die Teufelsfiguren aus beiden Kulturen tummeln, wo sich Gut und Böse zugleich aufhalten. «Höll/Naraka» thematisiert einen Gewaltakt zwischen Frau und Mann. In der Hölle treffen Opfer und Täter aufeinander, der Akt der Gewalt wird dabei mit verschiedenen Formen der Hölle abgerechnet. Die Frau verarbeitet das Geschehene von einem psychologischen Standpunkt aus als Alptraum oder – anders gesagt – als «höllisches Trauma». Der Mann hingegen landet nach einem Autounfall in der physischen Unterwelt und ist mit den von einem Richter gesprochenen Strafen konfrontiert.

Es ist keine traditionelle Geschichte, die in «Höll/Naraka» erzählt wird, sondern vielmehr eine Reflexion über das Reich des Teufels und was es zwischen den beiden Kulturen darstellt. «Wir sehen die Hölle aus einer menschlichen Sicht und bringen Licht an den dunklen Ort», beschreibt Shanshan Wu das Theaterprojekt. Das Szenario auf der Bühne bietet Raum für einen zwischenmenschlichen, multikulturellen Dialog – und die Möglichkeit, künstlerische Traditionen des Theaters und moralische Vorstellungen in einem ungewohnten Kontext neu zu befragen.

 So prallen christliche auf chinesisch-buddhistische Höllenvorstellungen und deren Bildwelten. Schattenfiguren mit traditionellen Schweizer-Masken tauchen auf, eine der Hauptfiguren ist eine ziegenähnliche, an den traditionellen Schweizer Volksglauben angelehnte Gestalt. Der Teufel bringt Themen wie Macht und negative Gedanken ins Spiel. Opfer und Täter durchlaufen zudem eine Transformation; die Frau wird durch das Trinken der Suppe des Vergessens von ihrem Trauma «geheilt», der Mann wird als Schildkröte wiedergeboren.

 Die atmosphärische und vor allem multikulturelle Hölle wird neben den Bildwelten aber vor allem auch durch das Aufbrechen und Neukombinieren der theatralischen beziehungsweise künstlerischen Ausdrucksformen erzeugt. Bewegungstheater, Noise-Musik und asiatisches Schattenspiel nähern sich in einer grenzüberschreitenden Theatercollage an.  

Florian Helg und Shanshan Wu verbindet die gemeinsame Ausbildung in Bewegungstheater, die sie beide in Brüssel an der École Internationale de Théâtre LASSAAD absolviert haben. Florian Helg schloss sein Studium 2008 ab und produzierte anschliessend eigene Stücke im Theater am Gleis – oft in Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Martina Momo Kunz und dem Komponisten Michel Barengo. Shanshan Wu beendete ihr Studium bereits 2001 und ging wieder zurück nach Taiwan, wo sie in der Taiyuan Puppet Theatre Company als Regisseurin arbeitete und neue, moderne Theater Performances im taiwanesischen Kontext kreierte. Die Taiyuan Company wurde damals von Paul Lin und dem künstlerischen Leiter Robin Ruizendaal gegründet, um die vielfältige Tradition des Puppentheaters weiterzuführen. Im traditionellen Puppentheater sind Musik, Schnitzerei, Stickerei und eine filigrane Spieltechnik elementare Bestandteile.

Die Idee zur Zusammenarbeit hatte Florian Helg bereits Ende des Studiums. «Shanshan wurde 2008 als ehemalige Studentin für eine Präsentation am 25-Jahr-Jubiläum von der Schule eingeladen. Sie hatte eine Marionette dabei und erklärte, dass die Taiyuan Company mit diesem Kulturgut Shows macht», erzählt der Winterthurer. Weil er sich in seiner künstlerischen Arbeit ebenfalls mit Masken und ihrem Einsatz in der Kultur interessiert, fragte er die Kompagnie für einen Maskenaustausch an. Das Projekt kam damals allerdings nicht zustande.

 

Absolute Freiheit in der Umsetzung

Vor zwei Jahren schrieb der Theatermacher Shanshan Wu erneut an – dieses Mal mit Erfolg. «Mit jemandem zu arbeiten, der einen ähnlichen Hintergrund hat, aber aus einem anderen Kulturraum stammt, ist eine spannende Herausforderung», erklärt Florian Helg. Dank des Internets ist eine Zusammenarbeit über 9'500 Kilometer Distanz und sechs Stunden Zeitverschiebung möglich – auch ohne gemeinsame Treffen und Proben. Über verschiedene Kanäle tauschten Shanshan Wu und ihr Mitarbeiter Robert Lin sowie der Szenograf Raintree Chan Skizzen und Ideen zum Stück aus. Aus den Entwürfen schrieb der künstlerische Leiter der Taiyuan Company, Robin Ruizendaal, die Geschichte zum Gewaltakt. Mit dieser arbeiteten Florian Helg und Martina Momo Kunz in der Schweiz und überlegten sich, welche Bewegungen die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Opfer und Täter am besten zum Ausdruck bringen. Das Hao Theater, das 2017 aus der Taiyuan Company hervorging und dem Shanshan Wu, der Puppenspieler Robert Lin und der Szenograf und Collagenkünstler Raintree Chan angehören, kümmerte sich um Ideen für die Umsetzung mit Puppen und Schattenspiel. Der Komponist Michael Barengo bereitete zudem Geräusche, Melodien und Stimmen vor, die zur Geschichte passen.

Das besondere am Projekt: Alle haben absolute Freiheit in der Umsetzung. Denn zusammengesetzt wird das Stück erst im Juni, wenn das Hao Theater für einen Monat zu Besuch in der Schweiz ist. Die lebensgrossen, graphischen Collagen von Raintree Chan sind neben einem Hellraumprojektor und zwei Lampen das wichtigste Requisit für das taiwanesische Schattenspiel. Sie werden vor Ort aufgebaut und je nach Spielstätte an Raum und Bühne angepasst. Auf der Bühne des Theaters am Gleis wird geprobt, welche Soundspuren am besten zum Bewegungstanz von Florian Helg und Martina Momo Kunz passen werden. «Die Idee ist, dass die Figuren zwischen den Ebenen, der realen Bühne und der Höllenwelt im Schattenreich der Collagen, wechseln können. Mal sind die Figuren Schatten, mal werden sie von Marionetten oder uns als Performern verkörpert», erklärt Florian Helg. «Als Kunstschaffende war es uns wichtig, uns von der traditionellen Umsetzung der Geschichte zu lösen und sie neu zu interpretieren. Von der zweijährigen Recherche haben wir aber dennoch vieles beibehalten und einfliessen lassen», ergänzt er. Spannend sei es zudem, sich an jedem Ort wieder neu an die Begebenheiten anpassen zu müssen. Die Premiere feiert das Projekt «Höll/Naraka» am 16. Juni im Theater am Gleis in Winterthur und wird danach auch in Bern und Baden zu sehen sein. Mit der Aufführung im Muotathal verlegen Florian Helg und das Hao Theater das Stück aber tatsächlich in eine Umgebung, die zu den Welten passt, in der furchterregende Kreaturen und teuflische Wesen zuhause sind: in der Höhle namens Hölloch.

 

«Höll/Naraka»

Theater am Gleis Winterthur
Freitag, 16. Juni 2017, 20.15 Uhr
Samstag, 17 Juni 2017, 20.15 Uhr
Sonntag, 18. Juni 2017, 19 Uhr
www.theater-am-gleis.ch

 

Tojo Theater Bern
Mittwoch, 21. Juni 2017, 20.30 Uhr
Donnerstag, 22. Juni 2017, 20.30 Uhr
Freitag, 23. Juni 2017, 20.30 Uhr
www.tojo.ch

 

Hölloch Muotathal 
Samstag, 24. Juni 2017, 20 Uhr
Sonntag, 25. Juni 2017, 19 Uhr
Warme Kleidung mitbringen!
www.florianhelg.tumblr.com

 

Teatro Palino Baden 
Mittwoch, 28. Juni 2017, 20.30 Uhr
Donnerstag, 29. Juni 2017, 20.30 Uhr
www.teatropalino.com

 

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