Zukunftsvisionen für das Velo

Das Fahrrad erobert den urbanen Raum: Das Gewerbemuseum zeigt in der Ausstellung «Bike, Design, City», welches Potential im Kult-Objekt steckt und mischt sich in aktuelle politische Diskussionen ein.

Das Zweirad verkörpert alles, was für das moderne und urbane Lebensgefühl steht. Es strahlt Dynamik und Sportlichkeit aus, ist das schnellste Verkehrsmittel im urbanen Raum und regelmässiges Fahhradfahren hält überdies fit und gesund. «Ein geniales Fortbewegungsmittel!», bemerkt Markus Rigert, Kurator des Gewerbemuseums. Zudem habe sich das Velo in den letzten Jahren zum gefragten Design-Objekt entwickelt: «Für ein Singlespeed, ein sogenanntes Eingang-Velo oder Fixie, geben Fans schon mal bis zu 15'000 Franken aus.»

Die Ausstellung «Bike, Design, City» im Gewerbemuseum setzt sich bis zum 30. Juni mit der Bedeutung des Fahrrades im urbanen Kontext auseinander. Im Fokus steht dabei nicht die Vergangenheit – obwohl es auch spannend wäre, in die 200-jährige Geschichte des Velos einzutauchen –, sondern es geht um das Zweirad als ästhetisches Lifestyle-Objekt sowie Mobilitätskonzepte der Zukunft. Denn ob flexibles Klapprad, Fixie, kultiges Vintage-Rad, E-Bike oder Lastenvelo: Bereits ein Blick auf die Strassen zeigt, mit welch unterschiedlichen Modellen die Radfahrenden unterwegs sind. «Bike, Design, City» präsentiert die ganze Vielfalt an einem Ort. Auf einem roten, rutschfesten Fahrradweg lässt das Gewerbemuseum die Besucherinnen und Besucher die neusten Innovationen bezüglich Materialien, Gangschaltungen und Accessoires entdecken: Von abnehmbaren Schutzblechen, magnetischen Lichtern bis hin zu Fahrradhelmen. In einer Ecke steht ein Velo, zusammengebaut aus Bambus. An einer Wand sind alte Rennräder aus der Zeit zwischen 1930 und 1980 angebracht. Die verschiedenen E-Bikes zeigen den Wandel auf, den die Elektrofahrräder in den letzten Jahren hinsichtlich Technik und Design durchlebt haben. «Design und Ästhetik haben in der Fahrradkultur an Vielfalt und Bedeutung gewonnen», sagt Markus Rigert. Vor ein paar Jahren noch wurde das Fahrrad vor allem in der Freizeit genutzt. In den 1980er- und 1990er-Jahren kam die Mountainbike-Szene auf. Inzwischen erobert das Zweirad als Alltagsfortbewegungsmittel die Städte und fordert diese heraus, ihre Mobilitätskonzepte den Bedürfnissen der Radfahrenden anzupassen. «In der Stadt bietet das Velo unglaubliche Möglichkeiten – Möglichkeiten, die Grossstädte wie Kopenhagen, Utrecht oder Amsterdam bereits vor Jahren erkannt und ihre Verkehrskonzepte danach ausgerichtet haben», erklärt Markus Rigert.

 

Innovative Verkehrskonzepte

Im Zentrum von Kopenhagen pendeln heute knapp 50 Prozent der Bevölkerung  mit dem Fahrrad zur Arbeit oder zur Schule – das entspricht etwa 266'000 Personen. Auf dem gesamten Stadtgebiet liegt der Radverkehrsanteil bei 35 Prozent. «Jeden Tag rollen bis zu 40'000 Fahrräder über die Königin-Luise-Brücke an der Nørrebrogade, einer der Fahrradschnellstrecken im Norden der Stadt», erfährt der Ausstellungsbesuchende auf einer Informationstafel. Die hohen Zahlen sprechen für die konsequente Umsetzung der innovativen Verkehrskonzepte; die Stadt Kopenhagen gilt seit Jahrzehnten weltweit als Vorbild. Städte wie Amsterdam, New York, Paris, London oder auch Moskau haben in den letzten Jahren ebenfalls begonnen, den Langsamverkehr im Stadtzentrum zu fördern. «Der Grund für das Umdenken ist der Verkehrskollaps in den Städten», erklärt Markus Rigert. «Damit die Leute aber auf das Velo umsteigen, braucht es eine Infrastruktur, welche die Sicherheit und Hindernisfreiheit für die Fahrradfahrenden gewährleistet». In Kopenhagen sind die Radwege drei bis vier Meter breit, so dass problemlos mehrere Velos nebeneinander Platz finden. Die Fahrräder haben ausserdem Vorfahrt gegenüber allen anderen Verkehrsteilnehmenden – das betrifft auch den öffentlichen Verkehr. Damit ist ein ungehinderter Fluss des Radverkehrs in der Stadt garantiert. Damit trotz schneller Fahrt keine Unfälle passieren, kommunizieren die Kopenhagener Radfahrenden per Handzeichen: Wer abbiegt, gibt mit der Hand ein Zeichen nach rechts oder links, wer anhalten will, hält den Arm in die Höhe. Die tiefe Unfallstatistik spricht für sich.

«In Kopenhagen zeigt sich, dass eine andere Stadtkultur möglich ist, wenn die Infrastruktur für den Langsamverkehr geboten und vor allem der Verkehr aufeinander abgestimmt ist», sagt Markus Rigert. Fahrradfahren im urbanen Raum trage zu einem positiven Lebensgefühl bei. Die Aussage des Kurators wird in der Ausstellung durch Zahlen gestützt: Eine Umfrage zeigt, dass 56 Prozent der Menschen in Kopenhagen das Fahrrad bevorzugen, weil sie damit schnell, leicht und sicher von A nach B kommen. 19 Prozent nannten gesundheitliche Gründe, nur ein Prozent steigt aus ökologischen Gründen aufs Velo.

 

Eine Kosten- und Willensfrage

Das Gewerbemuseum vermittelt mit «Bike, Design, City» auch eine politische Botschaft: Indem es Utopien und Visionen für Mobilitätskonzepte der Zukunft präsentiert, zeigt das Museum, dass die Schweiz und auch die Stadt Winterthur Nachholbedarf haben. Die Realisierung der innovativen Verkehrskonzepte ist nicht nur eine Kosten-, sondern vor allem eine Willensfrage. Das demonstriert das Beispiel Kopenhagen nur zu gut: 15 bis 20 Millionen Euro werden pro Jahr für Radwege ausgegeben. Dabei spart Dänemark aber auch: «Dänemark verdient an jedem geradelten Kilometer 23 Cents. Dagegen müssen wir für jeden mit dem Auto gefahrenen Kilometer 16 Cents bezahlen – 16 Cents, die wir in ein grosses schwarzes Loch schmeissen und nie wieder sehen», erklärt Fahrradexperte Mikael Colville-Andersen in einem Video-Beitrag in der Ausstellung. Kurator Markus Rigert erläutert, dass der Experte sich auf Ausgaben bezieht, die durch Schäden an den Strassen oder durch Gesundheitskosten entstehen. 

In Winterthur ist die Situation für Velofahrende nicht schlecht: «Winterthur war eine Arbeiterstadt. Viele Arbeiter fuhren mit dem Fahhrad von den Quartieren in die Fabriken im Zentrum. Die Stadt hatte damals auch in Velowege investiert», erklärt Markus Rigert. Zahlen des Bundesamtes für Statistik aus dem Jahr 2010 belegen, dass Winterthur dem Ruf der Velostadt noch immer gerecht wird: 13 Prozent der Wege werden von der Winterthurer Stadtbevölkerung mit dem Velo zurückgelegt. In Basel sind es 16 Prozent, in Zürich 6 und in St. Gallen gar nur 3 Prozent. Zum Vergleich: 36 Prozent der zurückgelegten Wege werden in Winterthur mit dem Auto bestritten. Zurzeit ist es die Stadt Bern, die ein ambitioniertes Ziel verfolgt: Bis ins Jahr 2030 soll in der Bundesstadt der Anteil an Fahrrädern von den heutigen 11 auf 20 Prozent gesteigert werden. Im Juni 2016 wurde die erste Velohauptroute Wankdorf eröffnet, weitere Infrastrukturprojekte auf dem Weg zur Velohauptstadt sind geplant.

Die aktuelle Trendwende vom Freizeit- zum Alltagsgefährt und vor allem die neusten technischen Entwicklungen lassen immer mehr Menschen aufs Velo umsteigen. Doch in der Winterthurer Politik sei das Fahrradfahren zurzeit kein Thema, sagt Markus Rigert. Die Ausstellung zeigt zwar, dass auch für Winterthur Pläne für den Ausbau des Velonetzwerkes bestehen, doch aus Spargründen wurden diese Pläne bis auf Weiteres verschoben. Nur am Hauptbahnhof wird bis 2018 eine Velounterführung gebaut – ein bedeutender Fortschritt, so wird über diese Unterführung bereits seit den 1990er-Jahren diskutiert.

Im Rahmen des Winterthurer Velofrühlings läutet das Gewerbemuseum zusammen mit 16 Winterthurer Velofachgeschäften am Wochenende vom 1. und 2. April die Velosaison ein: Wer Lust hat, kann mit einer Sternfahrt die ganze Stadt erkunden. Vor dem Museum führt die Organisation Velafrica am gleichen Wochenende eine Sammelaktion durch: In der Velowerkstatt der Brühlgut Stiftung werden dann alte Fahrräder wieder flott gemacht und in Containern nach Afrika verfrachtet, mit dem Ziel, dass die Recycling-Velos den Menschen dort das Leben zu vereinfachen. Die Velodisco bringt am Sonntag, 2. April von 17 bis 18 Uhr die Menschen vor dem Museum zum Tanzen, indem sie mit ihren«Pedal-Kraftwerken» einen Plattenspieler zum Drehen bringen. Und wer noch mehr zum Thema Fahrrad erfahren möchte, dem bietet das Kino Cameo mit einer Filmreihe «Die Drahtesel sind los» weitere Einblick in die Vielfältigkeit des Zweirades und zeigt die grosse Begeisterung einzelner Menschen für das faszinierende Fortbewegungsmittel.

 

Bike, Design City

Dienstag bis Sonntag, 10 bis 17 Uhr, Donnerstag bis 20 Uhr

Eintritt: CHF 8/5

Gewerbemuseum

Kirchplatz 14

www.gewerbemuseum.ch

 

«Die Drahtesel sind los»

Filmreihe vom 1. April bis 14. Mai

Kino Cameo

Lagerplatz 19

www.kinocameo.ch

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