Tanzen verbindet

Freunde treffen, flirten und den Alltag vergessen – das verbinden viele mit Tanzen gehen, ist aber nicht für alle selbstverständlich. Die D!sco im Salzhaus macht das für Menschen mit Behinderung möglich.

Es ist kurz vor 19 Uhr. Draussen warten 20 Menschen, die es kaum erwarten können, bis das Salzhaus seine Türen für die «D!sco für Menschen mit und ohne Behinderung» öffnet. In der Schlange stehen Menschen verschiedensten Alters, einige sitzen im Rollstuhl. An der Kasse begrüsst Natascha fröhlich die Gäste. Sie ist seit Jahren ein engagiertes Mitglied im Team der D!sco und verteilt an diesem Abend Eintrittsstempel und Getränkebons. Beeinträchtigte Menschen trifft man an der D!sco nicht nur unter den Gästen an, sondern auch als Helferinnen und Helfer in verschiedenen Bereichen. Drinnen ist die Tanzfläche bereits von der ersten Minute an gefüllt. Das ist an der D!sco immer so: «Der vielleicht grösste Unterschied zwischen dieser und anderen Partys ist, dass sich die Gäste keinen Mut antrinken müssen. Sie legen gleich voll los», sagt Simon, der jeweils für die Beleuchtung zuständig ist.

Die D!sco ist eine Party für Menschen mit Beeinträchtigungen sowie für ihre Angehörigen und Betreuungspersonen. Alle zwei Monate wird im Salzhaus von 19 bis 22 Uhr gefeiert, es werden Kontakte geknüpft und der Alltag vergessen. «Für uns ist wichtig, dass sich die D!sco nicht von anderen Partys im Salzhaus unterscheidet», erklärt Fabian von Selve, Mitinitiant der D!sco und ehemaliger Geschäftsleiter des Salzhauses. Die Location ist rollstuhlgängig und es wird auf Stroboskoplicht verzichtet. Ansonsten ist es eine Party wie jede andere: Sie findet am Wochenende statt, es gibt einen normalen Barbetrieb und der Einlass ist ab 18 Jahren.

Viele Salzhäusler arbeiten im sozialen Bereich und am Wochenende im Club. Die Idee für die D!sco entstand vor fünf Jahren in einem Skilager für Menschen mit Beeinträchtigungen. «Wir feierten abgesondert vom Après-Ski-Angebot in einem Luftschutzkeller und dachten uns: Das kann es doch nicht sein!», sagt Fabian. Der öffentliche Event für Menschen mit und ohne Behinderung war schnell realisiert. Was die Initiantinnen und Initianten im Kleinen geplant hatten, fand zu ihrer Überraschung grossen Anklang.Heute hat die D!sco regelmässig 200 Besucherinnen und Besucher.

Aus dem institutionellen Alltag ausbrechen

Viele Gäste kommen in kleinen Grüppchen aus den umliegenden Wohnheimen. Franziska wollte zum Beispiel mit ihren Schützlingen für ein paar Stunden aus dem institutionellen Alltag ausbrechen. «Ich finde es cool, dass sie am gleichen Ort feiern können, wie ich das in meiner Freizeit tue», sagt sie. Neben den Alltagsunterbrechungen ist aber auch das Kennenlernen und Flirten ein Thema: «Beim bereitmachen wurde schon getuschelt: Vielleicht treffe ich ja einen schönen Mann oder eine schöne Frau.» Wie ist das aber, wenn zwei Turteltäubchen zusammen nach Hause gehen möchten? «Das ist ein Tabu-Thema», erklärt Franziska. Die von ihr betreuten Menschen hätten Beistände, die solche Besuche absegnen müssten. Sie fügt an: «Aber genau wie wir, brauchen auch sie Nähe. Da müsste sich noch etwas tun.» Auch Kristin ist als Betreuerin an der D!sco. Sie begleitet zwei ältere Damen des Wohnheims Brühlberg. Beim Flirten stellt sie einen Generationenunterschied fest: «Der Wunsch, jemanden kennenzulernen, ist bei allen da, aber vor allem bei den Älteren liegt die Hemmschwelle höher.» Die ältere Generation sei eben anders erzogen worden.

An der Bar unterstützt Pascal das Personal. Er ist schon seit einiger Zeit im Team und mag die Arbeit hinter dem Tresen. Beim Einkassieren ist er etwas unsicher, aber umso eifriger lernt er das Mischen von Drinks. Die D!sco ist für ihn ein Abend, um Freunde zu treffen und sich herauszuputzen. An der Bar werden aber nicht nur Getränke ausgegeben, sondern auch blutende Finger verarztet oder mit Zeichnungspapier gedient. Markus sitzt mit seinem Motorrad-Cap auf einem Hocker und zeichnet für zwei junge Frauen Militärflugzeuge. Als aus den Lautsprechern die Rolling Stones dröhnen, springt er auf und rennt auf die Tanzfläche. «Die habe ich mir vom DJ gewünscht», ruft er stolz. Und klärt seine Freunde zwischen zwei Karatemoves über Trump, Putin und die Bauvorschriften der SUVA auf. Daneben tanzen zwei Männer einen Walzer und ein Mädchen im Rollstuhl schwingt ihre Arme im Takt. Bei «Ewigi Liebi» ist der Moment eines Pärchens am Rand der Tanzfläche gekommen. Sie halten sich an den Händen und strahlen sich an. Dabei funkeln ihre Augen mit dem Paillettenshirt des Mädchens um die Wette.

Obwohl Alkohol ausgeschenkt wird, habe es bisher noch nie Probleme wegen Alkoholexzessen gegeben, betont Fabian. Zu sehr haben sich ihre Gäste die Regeln, was man darf und was nicht, verinnerlicht. Auch sticht der saubere Boden ins Auge. Es liegen weder Scherben am Boden, noch ist er besonders klebrig. So verwundert es wenig, dass auch am Boden getanzt wird. «Manchmal veranstalten wir Battles. Einige haben das Breakdancen voll drauf!», erzählt Mitinitiantin Laura Bösiger. Sie war wie Fabian früher ebenfalls Geschäftsleiterin des Salzhauses.

«Als DJ bist du hier ein Star»

Auf die Wände werden Videoclips projiziert. Passend zur Jahreszeit ist das DJ-Pult von einem Eisbären und einem Pinguin flankiert. An der D!sco steht das DJ-Pult auf der Tanzfläche. Das bringt Nähe zum Publikum, und so lassen es sich die Gäste auch nicht nehmen, den einen oder anderen Song zu wünschen. «Am besten kommen Bässe oder DJ Ötzi an», sagt Laura. Sie steht an diesem Abend zusammen mit Fabian hinter dem DJ-Pult. Gespielt wird alles, was tanzbar ist. Pop, Rock, Schlager und Hip-Hop. Wenn man die Gäste fragt, welches Lied sie bisher am tollsten gefunden haben, war es meistens dasjenige, das gerade gespielt wurde. «Als DJ bist du hier ein Star», erzählt Laura lachend. «Wir knipsen mit unseren Gästen Selfies und lassen sie auch mal die Kopfhörer aufsetzen.» Sie scheint heute entspannter als Fabian. «Habt ihr den mit der Trommel gesehen?», fragt er seine Kolleginnen und Kollegen in einer ruhigeren Minute nach der Party. «Er stand während den ganzen drei Stunden direkt hinter mir und hat mir den Takt ins Ohr getrommelt!» Da braucht es Nerven aus Stahl, denn die Gäste sind hier wirklich Könige. «Es kann manchmal schon sehr anstrengend sein», seufzt Kristin, während eine der Personen, die sie betreut, wiederholt über Ohrenschmerzen klagt, dann aber gleich wieder in der Menge verschwindet. Für sie sei es aber der geilste Job der Welt.

Alex wird von seiner Schwester Emily und ihren WG-Mitbewohnerinnen begleitet. Während er sich Zeit nimmt für seine Antworten, nippt er an seinem Drink. Er sei oft mit einem Freizeitclub unterwegs, aber leider hätten alle Freizeitangebote dasselbe Problem mit der Finanzierung, das Budget werde laufend gekürzt.«Dabei braucht es nicht viel, um uns eine Freude zu machen.» Es gehe nicht um weite Reisen, sondern um die Erlebnisse. Das könne auch ein Ausflug mit dem Elektrovelo sein. Den Eintritt in der D!sco erhält man in Form eines Getränkebons zurück, das Personal arbeitet auf freiwilliger Basis. «Auch wenn das abgedroschen klingt: Wenn ich sehe, wieviel Spass unsere Gäste haben, dann reicht mir das als Lohn», meint Laura.

Aber weshalb braucht es extra eine Party für Menschen mit Behinderung? Sie mögen dieselbe Musik und von ihrer Offenheit könnte sich manch ein Clubgänger eine Scheibe abschneiden. Menschen mit Beeinträchtigung sind an allen Partys im Salzhaus willkommen, aber sobald Menschen auf Betreuung angewiesen sind, wird es organisatorisch schwieriger. «Auch wenn ein solcher Abend allen Spass macht, möchte man doch wissen, wann Feierabend ist», sagen die Organisatoren aus Erfahrung. Um 22 Uhr ist die D!sco zu Ende. Der Discoabend soll nicht scheitern, weil das Personal für Open-End-Partys fehlt. Drei Stunden seien zudem eine gute Zeitspanne, sagt Kristin, denn die meisten seien früh aufgestanden und müde von der Arbeit. Schliesslich kennt Laura einen entscheidenden Vorteil von zeitlich begrenzten Partys: «Niemand soll mit einem schlechten Gefühl nach Hause gehen. So ist um 22 Uhr Schluss und niemand muss das Gefühl haben, etwas zu verpassen.»

Kaum ist Schluss, haben die Mitarbeitenden eine Stunde Zeit, um das Salzhaus für die nächste Party bereit zu machen. Einige Gäste bleiben noch ein Weilchen in der Lounge sitzen. «Wir werfen niemanden raus», sagt Fabian. Wer möchte, darf für die anschliessende Party bleiben. Die meisten aber verabschieden sich. Zum Abschied werden reihenweise Leute umarmt und viele Hände geschüttelt. 

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