«Ich möchte das Nichts malen, welches das Ganze sei, das Schweigen, das Licht, möchte das Unendliche malen». So äusserte sich der norditalienische Maler Antonio Calderara zu Beginn der 1960er-Jahre, als er sich bereits der Ungegenständlichkeit zugewandt hatte. Doch ist es als Maler nicht ein Widerspruch, das Nichts darstellen zu wollen? Ist die Abbildung nicht dem Nichts entgegen gestellt?
In seinem Spätwerk versuchte Antonio Calderara sich auf das Wesentliche zu beschränken: Gehalt durch Reduktion lautete die Devise. Calderara, der in der italienischen Tradition zu arbeiten begann, entdeckte als erfahrener Künstler die abstrakte Malerei für sich. Er fing an die gegenständliche Welt in geometrische Flächen zu übertragen. Dabei interessierte ihn nicht die Gegenüberstellung von Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit, sondern die Vorstellung, das Partikuläre, das an Ort und Zeit Gebundene, in den von ihm «spazio mentale» genannten Bildraum zu übersetzen.
Der Übergang Antonio Calderaras von der gegenständlichen Malerei hin zur Abstraktion steht im Mittelpunkt der Retrospektive im Kunstmuseum Winterthur. Sie umfasst 30 Aquarelle und 70 Ölgemälde. Die Werke stammen von Galerien und Privatsammlungen aus Deutschland und der Schweiz, da Calderara in diesen Ländern in den 1960er-Jahren der Durchbruch als Künstler gelang. Ein ganzer Saal der Ausstellung widmet sich ausschliesslich seinen Aquarellen.
Eine neue Perspektive
Bereits mit 12 Jahren begann Antonio Calderara zu malen. Seine ersten Bilder entstanden in Vacciago, einem kleinen Ort oberhalb des Ortasees im Piemont, wo er während seiner Kindheit die Sommerzeit verbrachte. Die Schönheit der einfachen, strengen Architektur und insbesondere die Natur inspirierten den angehenden Künstler. Beide Motive greift er wiederholt in seinen Werken auf. Obwohl sein Oeuvre zunächst der figurativen Malerei zuzuordnen ist, wandte er sich Ende der 1950er-Jahre der Abstraktion zu. Seine Werke wurden zunehmend reduzierter, die Tonalitäten näherten sich einander an und auffällige Farbkontraste wurden vermieden. Eine Zartheit an Lichtfülle verbreitete sich in seinen Kompositionen, wodurch sich die geometrischen Formen fast aufzulösen scheinen. Anstelle des klar Definierten tritt eine harmonische Stille ein.
Mit seinem künstlerischen Schaffen fügt sich Calderara in den Zeitgeist des 19. Jahrhunderts ein. Ausgelöst von den Bewegungen des russischen und holländischen Konstruktivismus sowie von den Künstlern des Bauhauses, wurden traditionelle Darstellungsformen zunehmend hinterfragt. Gestaltungsmittel wie Perspektive, Farbe und Licht sollten neu definiert werden. Daraus entwickelte sich ein ästhetischer Ausdruck, der vom Gegenständlichen abrückte und so die herkömmliche Seh- und Vorstellungsgewohnheit erweitern sollte. Auch Calderara setzte sich stark mit der Neudefinierung dieser Gestaltungsmittel auseinander. Er war der Überzeugung, dass eine räumliche Dimension nicht zwangsläufig auf einen Horizont oder einen Fluchtpunkt angestrebt werden muss, sondern vielmehr auf eine Wirklichkeit der Einbildungskraft, genauer: Auf die Einbildungskraft und Wahrnehmung der Betrachtenden. In der Praxis versuchte er räumliche Tiefe beispielsweise mit dem Aufeinanderschichten von Farbe zu erzeugen. Auch die Lichtkomposition spielte eine wichtige Rolle. Nach Calderara kann das blendende Licht eine Veränderung der Wahrnehmung hervorrufen. Wie das reflektierende Sonnenlicht auf einem See, das die Betrachtenden zwingt, die Augen zusammenzukneifen und so von ihrer herkömmlichen Sehgewohnheit abzuweichen. So kann durch Licht eine unbestimmte Tiefenwirkung entstehen, wobei die optische Wahrnehmung in eine transzendentale, gar meditative Erfahrung übergeht. Letzteres definiert der Künstler als «spazio mentale», eine autonome Einheit, die das Bild als etwas in sich Geschlossenes erfahren lässt.
Gehalt durch Reduktion
So wandte sich Antonio Calderara im Verlauf seines künstlerischen Schaffens von der gegenständlichen weg, der nicht-figurativen Malerei zu. Dies eröffnete ihm neue gestalterische Möglichkeiten, losgelöst von der Tradition und allfälligen Einschränkungen, die sie mit sich brachte. Dabei ging es ihm aber nicht bloss um die Erforschung optischer Elemente oder um den Nachweis physikalischer Eigenschaften des Lichts, sondern vielmehr um die Ausrichtung auf die Erlebnisfähigkeit der Betrachtenden. Indem er etwas Gehaltvolles mit einer reduzierten Form der Darstellung verband, forderte er, gar zwang er die Betrachtenden, sich von seiner gewohnten Wahrnehmung zu verabschieden und so ihr Bewusstsein zu erweitern. Das Wesentliche befand sich plötzlich nicht mehr auf einer optischen, sondern auf einer transzendentalen Ebene. Somit erhielten selbst die simpelsten geometrischen Formen eine gewisse Präsenz, eine gewisse Ausdruckskraft und Ausstrahlung.
Antonio Calderaras Oeuvre kann als kontinuierlicher Prozess, als endlose Experimentierphase gesehen werden. Nicht mehr dazu in der Lage sich durch das Gegenständliche auszudrücken, wandte er sich der Ungegenständlichkeit zu. Durch die Überzeugung vorangetrieben, das Gehaltvolle, das Ganze nicht nur durch gegenständliche Formfülle, sondern durch Lichtfülle, durch das Transzendentale und letztendlich durch das «Nichts» darstellen zu können.
Antonio Calderara (1903 – 1978)
Vernissage: Freitag, 10. Februar, um 18.30 Uhr, Eintritt frei
Ausstellung von 11.2. bis 30.4.2017,
Dienstag, 10 bis 20 Uhr, Mittwoch bis
Sonntag, 10 bis 17 Uhr,
Eintritt: CHF 15/12
Kunstmuseum Winterthur
Museumsstrasse 52