«Die sollen sich integrieren!» Solche Sätze liest Birgül Gedik oft in den Kommentarspalten der Medien zu Berichten über «Ausländerinnen und Ausländer». «Was bedeutet es denn eigentlich, ‹sich zu integrieren›?», fragt sie sich dann. Die Forderung in den Kommentaren lautet, wie eine Schweizerin oder ein Schweizer zu sein. Aber: Wie ist ein typischer Schweizer? Wie charakterisiert sich eine typische Winterthurerin? «Vermutlich anders als ein Appenzeller, oder?»
Birgül Gedik ist in Winterthur geboren und hier aufgewachsen. Ihr Vater wurde von Sulzer – wie viele andere Gastarbeiter auch – aus der Türkei in die Industriestadt geholt. Sie gehört zur zweiten Generation, den Secondas und Secondos, die in Winterthur zuhause sind – eine Generation, die staunt, dass sogar noch ihre Kinder wegen ihrer Herkunft manchmal mit Problemen konfrontiert sind. Birgül Gedik nennt als Beispiel die Problematik des Namens. «Es ist eine Tatsache, dass der Name einer Person, sobald er ausländisch klingt, einen grossen Einfluss auf die Wohnungssuche, die Lehrstellen- oder Arbeitssuche hat. Meine Tochter wurde beispielsweise vor Eintritt in den Kindergarten wegen ihres Namens in den Deutschkurs eingeteilt. Sie spricht jedoch perfekt Züridütsch.» Auch sie selbst beobachte oft, dass Menschen total überrascht sind, dass sie fliessend Schweizerdeutsch spreche. «Ohne mich persönlich zu kennen, haben sie sich – bewusst oder unbewusst – ein Bild von mir gemacht.»
Rund 23,3 Prozent der Winterthurer Wohnbevölkerung, das sind 26'332 Menschen, haben keinen Schweizer Pass, davon sind 5’276 Personen in der Stadt geboren, so die Statistik (Stand Februar 2016). Der grösste Teil lebt hier unauffällig, einzig der Name, manchmal die Sprache oder das Aussehen – wenn überhaupt – verweist auf die ursprüngliche Herkunft. «Viele von meinen türkischen Bekannten in Winterthur sprechen Schweizerdeutsch, arbeiten als anerkannte Fachleute, als Bäcker-Konditor, Lehrerinnen, Ingenieure, Ärztinnen, in Versicherungen oder Sozialfachstellen», erzählt Birgül Gedik. Sie selbst arbeitet als Deutschlehrerin und beim Mieterverband. Bei den Schweizerinnen und Schweizern fehle allerdings das Bewusstsein, dass viele in ihrem Bekanntenkreis zu diesen «Ausländerinnen und Ausländern» gehören, über die sie in Gesprächen oder in Kommentarspalten schimpfen. «Ich sei damit nicht gemeint», erhält Birgül Gedik oft als Antwort, wenn sie in einem Gespräch interveniert und darauf hinweist, dass sie ebenfalls einen Migrationshintergrund habe. «Aber wenn nicht ich gemeint bin, wer dann?»
Als Präsidentin des Ausländer/-innen-Beirats engagiert sich Birgül Gedik aktiv, damit Themen, die die Bevölkerung ohne Schweizer Pass in Winterthur beschäftigen, bei der Politik Gehör finden. Das Gremium, in dem 15 Personen mitarbeiten, vermittelt zwischen den städtischen Behörden und der ausländischen Wohnbevölkerung und berät die Behörden bei integrationsrelevanten Themen. Im Zentrum stehen dabei Themen wie die Frühförderung von Kindern aus sozial benachteiligten Familien oder die Altersbetreuung. Der Beirat besitzt zwar keine Stimme im Gemeinderat, kann aber direkt mit dem Stadtrat in Kontakt treten und auch intervenieren, wenn beispielsweise diskutiert wird, ob das Gleichstellungsbüro der Stadt aus Spargründen gestrichen werden soll. «Die Stadt hat eine Vorbildfunktion», sagt Birgül Gedik und verweist darauf, dass die Abschaffung des Gleichstellungsbüros ein negatives Signal an Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gesendet hätte. Gerade die Öffentlichkeitsarbeit zu integrationsspezifischen Fragen sei wichtig, um die Winterthurerinnen und Winterthurer zu sensibilisieren. Denn noch immer bestehen Vorurteile: «Wieso ist es nicht möglich, dass sich jede und jeder zuerst überlegt, weshalb er eine negative Meinung gegenüber Ausländerinnen und Ausländern hat?», fragt Birgül Gedik. Denn jede und jeder kenne eine Person mit Migrationshintergrund, sei es als Arbeitskollegin oder -kollege, Lehrerin oder Lehrer, Mitschülerin oder Mitschüler, Nachbarin oder Nachbar, der perfekt Deutsch spricht und «integriert» ist.