Es dämmert bereits wieder. Ich erkenne dies durch die Fenster oberhalb der Galerie, durch die mich die Lichtstrahlen wie jeden Morgen schon viel zu früh aus dem Schlaf reissen. Ich mag die Nacht, die Dunkelheit, die Stille. Und die Montage. Denn am Montag ist unser Haus geschlossen und ich kann in Ruhe meinen Gedanken nachhängen oder mich mit meinen Raumgenossinnen und -genossen über unsere verschiedenen Herkünfte und Lebzeiten austauschen.
Seit knapp 70 Jahren befinde ich mich nun an diesem Ort. Ein Ort, der – dem Hörensagen nach – traumhaft schön sein muss. Genau wissen tue ich es leider nicht, denn nach einer unendlich langen und unbequemen Reise, umhüllt von Decken und Karton, fernab von jeglichem Tageslicht, bin ich 1949 von Frankreich her direkt in diesem Saal gelandet. Oberhalb einer Stadt mit dem Namen Winterthur, im Wohnhaus des grossen Mäzens und Kunstsammlers Oskar Reinhart. Ein sympathischer, gut aussehender Mann.
Ja, noch gut kann ich mich an die geselligen Dinner-Abende hier im Salon vor dem Cheminée erinnern. Es waren die ersten Jahre nach meiner Ankunft. Sie müssen sich vorstellen, wie das Feuer im Kamin den Raum erhellte. Davor eine Gruppe wunderschöner Canapés, die zum Sitzen einluden und auf denen im Laufe der Jahre viele elegant gekleidete Menschen – angesehene Männer inklusive hübscher Ehefrauen – Platz nahmen. Diese festlichen Gesellschaften erinnerten mich an die Zeit, als ich noch mit Jean-Baptiste verheiratet war. Damals veranstalteten wir viele solcher ausgelassenen Soirées. Bei einer solchen geschah es auch – ich glaube es war 1813 –, dass mein Ehemann der Gattin eines Kollegen verfiel. Nun ja, sie war auch wirklich eine Augenweide. Wie dem auch sei; es folgten endlose Streitereien, kaputtes Geschirr und viele tränenreiche Stunden. Zu gern hätte ihn verlassen, doch das hätte Vater nicht geduldet. Zu gross war sein Stolz über den sozialen Aufstieg, den er durch meine Heirat mit dem Baron erlangt hatte. Seine künstlerische Karriere wurde angetrieben, infolgedessen er mich auch als Baronin porträtierte. Natürlich war es für mich eine besondere Ehre, auf diese Weise verewigt zu werden, doch hätte er mir schon etwas mehr schmeicheln können. Die Nase zu knollig, die Lippen zu schmal, gezwängt in dieses fürchterliche rote Samtkleid. Der Hintergrund unvollendet, als würde ich in einem Erdloch sitzen. Ach Vater...
Seit Herr Reinhart gestorben ist und sein Haus der Öffentlichkeit als Museum übergeben wurde, hat sich das Ambiente hier im Salon stark verändert. Die inzwischen antiken Sofas sind verschwunden, stattdessen wurden beige kubusförmige Sitzmöbel inmitten des Saales platziert. Wenigstens der Kronleuchter durfte seinen Platz behalten. Täglich – ausser natürlich an den Montagen – durchlaufen unzählige Menschen den Raum, oftmals zu zweit, manchmal alleine, ab und zu in traubenförmigen Gruppen. Ältere Menschen mit Gehstöcken, Paare mittleren Alters, Schulklassen... Menschen verschiedenster Ethnien. Die Liste ist lang. Oftmals streifen mich ihre Blicke nur kurz aus der Ferne, doch manchmal verharren sie auch eine ganze Weile dicht vor mir, so dass ich ihren Atem spüren kann. Sie starren mich an. Permanent werden meine Sinne von allen Seiten überflutet; so entfalten sich nebst neuartigen Geräuschen, wie diesem penetranten Klingeln eines mir unbekannten kleinen Apparates, und unterschiedlichsten Sprachen der Welt auch Düfte jeglicher Art, die schwer einzuordnen sind. Fasziniert, irritiert, oft schockiert bin ich von ihrem Erscheinungsbild, bei dem ich zeit meines Lebens einen stetigen Wandel beobachten konnte: Sie tragen Frisuren, Make-up und Kleidung, wie ich sie zuvor noch nie gesehen habe. Materialien, die mir fremd erscheinen, Farben, von deren Existenz ich nichts wusste. Haare in knallgrün, der Wahnsinn! Frauen tragen nun Hosen und Männer lange Haare, so dass ich sie manchmal gar nicht auseinanderhalten kann. Metall im Gesicht, Farbe auf der Haut; immer wieder Neues sticht mir ins Auge und lässt meine Gedanken Purzelbäume schlagen, ja meinen Kopf fast explodieren...
Ach, wenn es doch schon wieder Montag wär.