Can we make it?

Geplant war eine Crowdfunding-Kampagne, um die Bühnerei zu unterstützen. Denn der «Raum für Theater und Circus» leidet schon länger unter finanziellen Problemen. Doch dann kam Corona.

Es ist Dienstag, der 17. März, Uhrzeit 17:45 Uhr. Eigentlich wäre ich jetzt zu Besuch in der Bühnerei; in einer alten Fabrikhalle der Sulzer im südlichen Teil des Lagerplatzes, die vor gut zehn Jahren in einen Raum für Theater und Zirkus verwandelt wurde. Ich würde den Kurs «Bühne frei Kids» besuchen und miterleben, wie sich kleine Artist*innen schauspielerische Grundlagen erarbeiten, tanzen, jonglieren und vieles mehr. Doch vier Tage zuvor hat der Bundesrat entschieden, alle Schulen zu schliessen; gestern folgte der schweizweite «Lockdown». Auf der Webseite der Bühnerei steht: «In der Bühnerei werden deshalb ab Montag, 16. März bis vorerst Freitag, 19. April keine Kurse und Trainings mehr stattfinden.» Ob sie zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Ausgabe wieder geöffnet hat, ist ungewiss. Die Möglichkeit, an diesem Dienstagabend einen Einblick in die Zirkuswelt zu erhalten, fällt also aus. Zwei Wochen zuvor hatte ich der Bühnerei bereits einen ersten Besuch abgestattet, um die Geschichte des Vereins kennenzulernen und in Erfahrung zu bringen, weshalb er seit längerem mit finanziellen Problemen zu kämpfen hat – dies trotz ausgelasteter Kurse und Ferienprogramme. Eine wemakeit-Kampagne sollte im März realisiert werden, um Gelder zu sammeln; das Video dafür wurde bereits Mitte Februar gedreht. Doch die Coronakrise hat die Leitung dazu veranlasst, das geplante Crowdfunding auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.

 

Ein Ort für Theater- und Zirkusprojekte

Es ist Donnerstagabend, der 5. März, als ich zum ersten Mal die Bühnerei betrete. Ein Dutzend Jugendliche beenden soeben ihr Training; schwingen sich ein letztes Mal am Vertikaltuch in die Höhe, springen vom Trampolin und werfen Jonglierbälle durch die Luft. Dann heisst es: Aufräumen und nach Hause. Aus dem Büro, einer kleinen Räumlichkeit  seitlich des fast zehn Meter hohen Proberaums, tritt Ramona Sieber. Zusammen mit Alexandra Capaul und Christina Oertle leitet sie die Bühnerei seit dem letzten Sommer. Die gelernte Kindergarten- und Unterstufenlehrerein bietet zudem auch eigene Kurse an. Heute war ihr Office-Tag, und die abendliche Sitzung wurde soeben beendet. Erfreut über den Besuch führt sie mich durch den 270 Quadratmeter grossen Hallenraum, in dem einst Bauteile für Lokomotiven hergestellt wurden. Die zuvor ausgelegten Matten sind inzwischen hinter dem seitlichen Vorhang verschwunden. Tücher, Seile und Ringe sind zurück an ihrem Platz – hochgezogen und befestigt an gelbbemalten Stahlträgern, welche an die Industriegeschichte des Ortes erinnern. Genutzt werde die Halle nicht nur für die hauseigenen Kurse für Kinder und Jugendliche, erklärt sie. Auch für private Zwecke könne diese gemietet werden, beispielsweise für Proben oder Aufführungen von Theater-, Zirkus- und Musikprojekten. «Die Vermietungen sind eine gute Einnahmequelle, allerdings ist dafür der administrative Aufwand enorm», sagt Ramona. Die nötige Infrastruktur sei jedoch vorhanden – dazu gehören eine kleine Kochnische, eine Toilette und die Garderoben, welche sich mitsamt Büro neben dem Proberaum aneinanderreihen. Ramona führt mich die Treppe hoch in den halboffenen Dachboden, wo sich ein gigantischer Fundus an Kostümen und ausgefallenen Accessoires befindet. Erhalten habe die Bühnerei diese vom Opernhaus und verschiedenen Theaterhäusern, erklärt sie. Nebst Eigennutzung bietet die Bühnerei einen Kostüm- und Materialverleih an, welcher rege genutzt werde. Die Begeisterung ist der 29-Jährigen anzumerken, so kümmert sie sich um dessen Unterhalt: «Wenn ich gerade keine Kurse gebe oder mich um Administratives kümmere, findet man mich meistens hier oben – vor der Nähmaschine», sagt sie und lacht.

 

Leitungswechsel

Da Co-Leiterin Christina noch mit der Buchhaltung beschäftigt ist, ziehen wir für die Fortsetzung des Gesprächs kurzerhand ins Bistro Les Wagons um. Dort erzählt Ramona mehr zur Geschichte und gegenwärtigen Situation des Vereins. Eröffnet wurde die Bühnerei 2010 von Eva Durrer und Dunja Tonnemacher mit dem Ziel, die Begeisterung für Theater und Zirkus an Menschen jeder Altersklasse weiterzugeben – fernab von Leistungsdruck. Im Mittelpunkt, so ist es auch im Leitbild festgehalten, stehe vielmehr «das Entdecken der eigenen Begabungen». Und das kommt an. Die Bühnerei ist gut besucht: «Viel grösser können wir nicht werden, viele Kurse sind voll ausgelastet», sagt Ramona. Winterthur könnte sogar mehr solche Angebote brauchen.

Seit der Gründung werde die Bühnerei grösstenteils durch Kursbeiträge finanziert. Dazu kommen kleinere Gönner- und Vereinsbeiträge, was jeweils knapp ausreicht, um für ein Jahr über die Runden zu kommen. Als Dunja, welche die Bühnerei seit Evas Ausstieg im Jahr 2015 alleine leitete, sich letzten Sommer neuorientieren wollte, machte sie sich auf die Suche nach einer Nachfolge. «Wenn Dunja niemanden gefunden hätte, hätte die Bühnerei schliessen müssen», erklärt Ramona. Doch wie es der Zufall wollte, war das junge Frauentrio, welches sich aus dem Mitspielzirkus Circolino Pipistrello kennt, auf der Suche nach einer Räumlichkeit, um ihre Leidenschaft für den Zirkus auszuleben und an andere weiterzugeben. Eine Nachfolge war also gefunden – doch die Probleme wurden damit nicht beseitigt.

 

«Die Bühnerei soll für alle zugänglich sein»

Dass die Bühnerei in finanziellen Schwierigkeiten ist, liege einerseits daran, dass es aktuell kaum noch Vereinsmitglieder gibt. Dadurch fallen die Mitgliederbeiträge weg. Andererseits fehlen den drei Leiterinnen Zeit und Ressourcen, um Gesuche für Fördergelder oder für einen Subventionsvertrag zu stellen. Denn neben den zwei bis drei bezahlten Kursen, die sie pro Woche geben, kümmert sich jede von ihnen rund 10 bis 20 Stunden pro Woche ehrenamtlich um administrative Aufgaben. Zu diesen Aufgaben gehören die Buchhaltung, das Kurswesen, Werbung und vieles mehr. Da bleibt neben ihrer Arbeit als Primarlehrerinnen und einer Weiterbildung an der Zirkuspädagogikschule Jojo in Freiburg im Breisgau nicht viel Zeit, um aktiv Fördergelder zu beantragen. Die Kurse der Bühnerei sind relativ teuer, zwischen 23 und 29 Franken kostet einer. Die Kursgelder zu erhöhen, sei für sie deshalb keine Option, sagt Ramona: «Die Bühnerei soll für alle zugänglich sein». Mit den erhofften Einnahmen von 25'000 Franken über das Crowdfunding sollte Startkapital für das neue Leitungsteam gefunden sowie eines der grössten Ausgabenlecke behoben werden: eine bessere Isolation, um die Heizkosten von aktuell 10'000 Franken pro Jahr zu verringern. Die Bühnerei verfügt erst seit 2019 über einen vorerst unbefristeten Mietvertrag, nachdem 2015 der Bau des Autoturms bei einer Abstimmung abgelehnt wurde. Zum anderen könnte die Bühnerei mit einem finanziellen Polster aktiv jemanden einstellen, der*die sich um die Spendenakquise kümmert. Denn allein mit den Einnahmen des Crowdfundings ist die Suche nach Geldern noch nicht vorbei, sie fängt erst an. Es wäre deshalb ein erster Schritt, die strukturellen Probleme, wie sie viele andere kleine Kulturinstitutionen auch kennen, im Verein anzugehen, damit die Bühnerei langfristig bestehen bleiben kann.

 

Und dann kam Corona

Die wemakeit-Aktion hätte am 16. März starten sollen. Doch die Bühnerei hat kurzfristig darauf verzichtet. Das Team befürchtete, dass die Menschen aufgrund der gegenwärtigen Situation kein Crowdfunding für ein Freizeitangebot unterstützen wollen. Zum einen sind in kürzester Zeit viele solcher Finanzierungsprojekte als Reaktion auf die Krise entstanden, zum anderen war es für die Bühnerei schon vorher schwierig, sich über Wasser zu halten. Dadurch, dass sie die Kursgelder bis zu den Sommerferien zurückerstatten muss, bedeutet dies ein weiteres finanzielles Leck. Zwar wurde Kurzarbeit für die sechs Kursleiter*innen bewilligt, doch ob sich der Verein von dieser Krise wieder erholt, ist von vielen Faktoren abhängig. Er braucht nun nicht nur dringend finanzielle Mittel, sondern auch vermehrt ehrenamtliche Unterstützung. «Das geplante Crowdfunding war ein Lichtblick für uns», sagt Ramona Sieber. Und das ist es noch immer: «Wir geben die Hoffnung nicht auf. Zu sehr liegt uns das Projekt Bühnerei am Herzen», erfahre ich, nachdem sich der Vorstand Mitte April in einer aussergewöhnlichen Sitzung besprochen hat. Und so soll nun im Mai – wenn alles gut geht – das Crowdfunding endlich anlaufen.

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