All das hat sich mehr oder weniger so zugetragen. Jedenfalls entsprechen die Abschnitte, die das Entstehen der Winterthurer Clubszene betreffen, durchaus der Wahrheit. Menschen, die ich flüchtig kenne, haben illegal im Kraftfeld auf dem Lagerplatz gewohnt. Andere wollten aus dem alten Unterwerk an der Unteren Schöntalstrasse eine zweite Rote Fabrik machen, waren aber nach zwei Monaten bereits pleite. Wieder andere befreiten während mehreren Wochen das Salzhaus von einer Zentimeter dicken Salzschicht, nur um einen Ort zu haben, an dem sie zusammen Acid Jazz, Funk und Jazz hören konnten. Ja, so war das.
1996 öffneten das Kraftfeld, das Gaswerk und das Salzhaus fast gleichzeitig ihre Tore – unabhängig voneinander. Bis dann war nicht besonders viel los in der Eulachstadt. Seit 1988 werden im Albani an der Steinberggasse vorwiegend Rock-Konzerte veranstaltet. Pearl Jam, Sheryl Crow oder dEUS spielten dort – Bands, die damals nur ein paar wenige kannten. Daneben gab es im Widder und in der Helvti ab und an Konzerte. In der «Chnelle» und im «Comi» traf man sich auf ein Bier oder einen Joint. 1992 kam die Alte Kaserne, das städtische Kulturzentrum mit Schwerpunkt Integrations-, Familien- und Jugendkultur, hinzu und der Planet Maxx lockte als kommerzieller Tanztempel die Leute von auswärts in die Stadt.
2016 sitze ich am Nachmittag im Kraftfeld und frage mich: «Was ging damals bloss in dieser Stadt vor?» Michael Sauerland kommt um die Ecke. Mit ihm wäre es spannend, über die alten Zeiten zu sprechen. Er organisiert bis heute als Kollektivmitglied im Widder Konzerte. Anfangs der Neunziger soll er mit Freunden auch mal da und dort in leerstehenden Häusern eine «Sauvage» veranstaltet haben. «Kulturmafia» sollen sie sich genannt haben. Aber das ist eine andere Geschichte...
«Ein Areal, bitte!» Flurin Bosshard, Betriebsleiter, Buchhalter und Wirt, bringt mir das Kraftfeld-eigene Bier, das seit 2005 produziert wird. Damals war es als «Benefiz-Bier» gedacht, um die Kosten für den Umbau des Clubs zu finanzieren. Statt der roten Postauto-Polstersitzen standen vor dem Umbau alte Flugzeugsitze im Raum. Die Wände waren orange-blau, die heute rohen Holzpfosten grün gestrichen. Die Einrichtung wirkte wie in einer «Besetzten».
Ein Foto, das die alte Einrichtung des Kraftfelds zeigt, hängt im Büro einen Stock über der Bar. Dort liegen auf einem Tisch auch Flyer aus den letzten 20 Jahren: Zigarren, die auf eine Pokernacht im April 1999 verweisen. Ein Löffel, der für die «Gib den Löffel ab»-Sonnenwende im Dezember 2003 wirbt. Mit dem Programm bedruckte Schallplatten oder zwei Ausgaben von «Der Zeit’Schrift. Ein Kraftfeld-Ableger», 1997 und 1998 von Flurin herausgegeben. «Unzählige Gratis-Stunden haben wir in die selbst gebastelten Flyer investiert», erzählt mir der Betriebsleiter. Löhne wurden erst ab 2002 bezahlt. Die Kraftfeld-Feste sind denn auch wegen ihrer ausgefallenen Ideen und Dekorationen legendär: Nicht nur für die «Sonnenwenden» im Sommer und Winter wurde gebastelt, sondern auch für Barabende und Partys. Die Souvenirs aus den letzten 20 Jahren gibt es am dreitägigen Jubiläumsfest vom 1. bis am 3. Juli 2016 im Kraftfeld zu sehen.
Flurin war zur Gründungszeit für die Bar mitverantwortlich. Er erzählt, wie die Gäste spät abends über das Tor klettern mussten, wenn sie ins Kraftfeld oder wieder nachhause wollten. Ab 22 Uhr wurde der Eingang zum Areal verschlossen. Im Portier-Häuschen, das heute ein Café ist, wachte der Wächter noch bis 1998. Das Lokal Kraftfeld wurde in den ersten Jahren vom Verein «Vereinsbar» geführt. Die Gäste wurden mit dem Trinken eines Biers Mitglied im Verein. Der Vorteil: «Hätte die Wirtschaftspolizei das Lokal dicht machen wollen, hätten wir dem Verein Vereinsbar einfach gekündigt. Die Polizei lachte uns jedoch genau deshalb bei der ersten Kontrolle aus», sagt Flurin. Der Wirtschaftspolizei war den jungen Betreibern kulant gesinnt und erteilte eine provisorische Festwirtschaftsbewilligung: Somit durfte durfte das Kraftfeld bis zu zehn Abende pro Monat öffnen. Bald gab es die «Disaster.bar» am Dienstag, bald die «Bade.wanne» am Donnerstag, an den Wochenenden Partyreihen von Reggae, Techno über 60ies Beat sowie am Sonntag eine Jam-Session. Das Programm bot Neues und Innovatives, Schräges und Avantgardistisches. Es gab Modeschauen, Veloputzete, Pokernächte und Pingpongturniere. Am Samstagmorgen richtete das Team ein Kaufhaus ein, in dem Secondhand-Kleider, Comics und Sonstiges verkauft wurden.
Angefangen hatte alles 1994 mit der «Umlaufban», einer Werkstatt neben dem Kraftfeld, die Michael «Mälc» Früh mietete und dort noch immer führt. Mälc holte seine Kollegen von der Mechatronik (damals Metallarbeiter) Schule Winterthur und aus dem Umfeld der Helvti hinzu. Alle um die 20 Jahre alt. Mit dabei: Jeff Thommen, der sich mittlerweile zu Flurin und mir an den Tisch gesetzt hat. Er arbeitet heute noch im Kraftfeld. «Wir wohnten anfangs in der Werkstatt», erzählt Jeff. «1996 mieteten wir die Räume des späteren Kraftfelds als Ateliers. Damals war der Büroraum noch in mehrere kleine Zimmer unterteilt.» Bis 2002 wohnten dort auch immer mal wieder Leute.
Die Verwaltung wollte das leerstehende Gebäude nur einer Genossenschaft vermieten. In einer solchen müssen mindestens sieben Personen vertreten sein. «Wir waren aber nur zu viert. Also gründeten wir kurzerhand vier Vereine», erzählt Jeff. Um die Miete bezahlen zu können, machte die Kraftfeld-WG aus ihrer «Stube» eine Bar. «Verdacht schöpfte die Verwaltung erst, als wir eine Badewanne einbauen wollten», sagt Jeff. «Wir liessen diese deshalb draussen stehen und Forellen darin schwimmen.» Die legten sie dann am Einweihungsfest am 5. Juli 1996 auf den Grill. Ja, so war das.
Der Duft von marokkanischem Essen liegt in der Luft, als ich im Kulturzentrum Gaswerk ankomme. Frauen aus aller Welt sind in der Küche des Backstagebereichs am Kochen. Im grossen Saal stehen gedeckte Tische für 20 bis 30 Personen. Der Anlass: «Frauen*znacht». Einmal im Monat kochen und essen geflüchtete Frauen zusammen mit Frauen aus Winterthur. In einem anderen Raum findet ein Deutschkurs der Asylorganisation AOZ statt. In den Ateliers im hinteren Teil des Gaswerks arbeiten sechs Künstler. Unten in den Kellern üben acht Bands, in den Räumen unter dem Dach drei Theater- und Tanzgruppen und direkt neben dem grossen Konzertsaal flimmern im «Kino Nische» jeweils Filme über die Leinwand.
Das Gaswerk ist aber auch ein Treffpunkt für rund 175 Menschen, die zusammen über 500 Stunden Freiwilligenarbeit pro Monat leisten. Denn während andere Lokale unrentable Konzerte und Mitarbeiterlöhne mit Einnahmen aus Partys querfinanzieren, funktioniert das Gaswerk nur dank dem ehrenamtlichen Engagement. Das Büroteam teilt sich zusammen lediglich 85 Stellenprozente. Für die übrige Arbeit erhalten die Freiwilligen als Entschädigung einen Helferpass, der ihnen Zutritt zu allen Konzerten gewährt. Im Gaswerk arbeiten sie, weil sie Spass daran haben. Seit der Gründung des Kulturzentrums gestalteten geschätzt 500 Menschen das Programm des Hauses mit. Den grössten Teil des Programms macht heute alternative Gitarrenmusik aus. Auch der «Frauen*znacht» wird von Helferinnen des Gaswerks organisiert.
Eine Alternative zum Bestehenden bieten, das war der Gedanke hinter der Gründung. Vielen, die einen Gegenpol zu den Technopartys suchten, fehlte ein Zuhause. Die Idee, ein Kulturzentrum für Jung und Alt zu gründen, lag auf der Hand. Im April 1994 gründeten 13 junge Frauen und Männer die Jugendlobby Kaktus, die sich neben einer Ombudsstelle für Kinder und Jugendliche und einem Jugendparlament für ein alternatives Kulturzentrum einsetzte. Nachdem der Gemeinderatsaal von der Jugendlobby besetzt wurde, sprach die Stadt den Jugendlichen im April 1996 das alte Unterwerk für drei Jahre zu. Sie erhielten zudem jährlich 10'000 Franken für den Betrieb und einen Umbaubeitrag von 100'000 Franken. Die Idee war ambitiös: Die Jugendlobby wollte ein Kulturzentrum mit Restaurant, Bibliothek, Teehaus, Theater, Kinderkrippe, Frauenraum, Atelier und Konzertlokal. Innerhalb einer Woche bauten sie das Haus notdürftig um. Die ersten Lärmklagen waren vorprogrammiert. Mit dabei war auch Kilian Schmid, bis 2008 im Vorstand des Trägervereins des Gaswerks. Heute organisiert er die Deutschkurse des AOZ im Gaswerk mit. «Uns schwebte eine Art Rote Fabrik vor», erzählt der Mitgründer.
Die Eröffnung fand am 5. Mai 1996 statt, mit einem fulminanten Konzert des Hamburger Kollektivs Camp Imperial. Drei Tage später spielte die Jazz Kantine. Die Sterne oder Die Regierung hiessen weitere Acts. Zwei Monate nach dem rauschenden Eröffnungsfest herrschte allerdings Katerstimmung im Gaswerk. «Wir agierten ohne Sicherheitsnetz und waren innert kürzester Zeit pleite», sagt Kilian. Ein Teil des Gründungsteams stieg aus. Kilian machte mit dem Rest des Teams weiter. Über ein Jahr dauerte es, bis die baulichen Auflagen erfüllt, die Lärmisolierungen verbessert und sanitäre Anlagen und Küche eingebaut waren. 1997 nahm das Gaswerk den Betrieb mit kleineren Konzerten wieder auf. Doch der Vertrag mit der Stadt drohte nicht verlängert zu werden, weil die Rudolf-Steiner-Schule das Haus kaufen wollte. 2001 stand die Existenz erneut auf dem Spiel: Die SVP und die EDU ergriffen das Referendum gegen einen vom Gemeinderat abgesegneten einmaligen Investitionsbeitrag von 200'000 Franken für einen weiteren Umbau. Das Gaswerk überzeugte die Bevölkerung im Abstimmungskampf mit innovativen Ideen wie einem «Buurezmorge». 60 Prozent der Winterthurerinnen und Winterthurer sagten Ja zum Kulturzentrum. Ja, so war das.
Als ich auf dem Heimweg beim Salzhaus vorbeikomme, brennt noch Licht. Die Spieler vom Salzhaus FC sitzen am Tresen und trinken noch ein Bier nach dem Training. Christian «Flück» Flückiger und William Faoro, zwei der Salzhaus-Gründer sind ebenfalls da. Michael Breitschmid, seit 2010 Programmmacher, bespricht mit dem Haustechniker Gregor Schrag die letzten Details für die Deko der Sommerbar. Die Sachen für den Aufbau stehen parat. Einen Monat lang wird das Salzhaus wieder sechs Tage die Woche geöffnet haben, den Aufwand dafür leisten die Mitarbeiter grösstenteils ehrenamtlich.
«Die Sommerbar war 2011 unser Rettungsanker», sagt Michael. Zu lange hatte sich das Salzhaus auf gut funktionierende Partyreihen verlassen ohne das Konzept anzupassen. Das Publikum blieb aus, das Image war eingerostet, die Finanzen im Keller. Ein neues Team übernahm die Leitung und brachte frischen Wind in das Haus, mit 15 Vollzeitstellen auf 150 Mitarbeitende verteilt. «Mit der Sommerbar konnten wir zeigen, dass das Salzhaus eben auch ein Ort ist, wo Menschen arbeiten, und keine Firma, die kommerzielle Veranstaltungen macht», sagt Michael. «Also kauften wir einen Pool und 400 Quadratmeter Rasenteppich und eröffneten die Sommerbar – mit der Option alles dicht zu machen, falls die Gäste ausbleiben.» Die Sommerbar ist noch immer ein Erfolg. Ein anderes Beispiel ist die «D!SCO», die Party für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung.
«Im Gegensatz zum Betrieb war die Ideologie des Salzhaus nie kommerziell», sagt Mitgründer Flück. Dass es den Livemusikklub überhaupt gibt, ist nur dem Einsatz von mehreren hundert Leuten zu verdanken. «Der Schuppen war in einem katastrophalen Zustand, als wir ihn im Frühling 1996 mieteten», erzählt er. Von der Holzdecke hatten sich zum Teil zwei Meter lange Holzsplitter abgespalten. An den Pfosten und Wänden hatte sich eine Zentimeter dicke Salzschicht abgelagert. Feuerstellen und Spritzen am Boden zeugten von einer Drogenszene auf dem verlassenen Rangierbahnhofs-Gelände. Aber das ist eine andere Geschichte...
«Anfang der Neunziger gab es eine Wanderdisco, die alle zwei Monate im oberen Saal des Zentrum Töss stattfand. Ansonsten fehlte aber ein Tanztempel, in dem kein Techno lief», sagt William. Zusammen mit DJ Andreas Petro und Bettina Ganz, die in der «Musicbox», dem Plattenladen in der Marktgasse arbeitete, suchten sie deshalb einen eigenen Ort. Für nur 1500 Franken im Monat mieteten sie den südlichen Drittel des Lagerhaus-Gebäudes. Korn- und Kaufhaus wurden damals noch von der Post genutzt. Mit einem Sandstrahler entfernten die zwischen 26 und 40 Jahre alten Gründer das Salz aus den Holzritzen, zimmerten mit Hilfe von Freunden – viele waren selbstständige Handwerker – eine Bühne, einen DJ-Turm und eine Bar. «Mit den 20'000 Franken, die wir für die Gründung der GmbH benötigten, bezahlten wird die anfallenden Kosten», erinnert sich Flück. Von der Stadt erhielten sie eine Festwirtschaftsbewilligung für zwei, später vier Anlässe pro Monat.
Bereits an der Eröffnung am 26. Oktober 1996 wurde das Salzhaus überrannt. Bis zu 1300 Menschen strömten pro Abend in den Club. «Dabei fiel bei Konzerten auch mal der Strom aus und das Publikum stand zwanzig Minuten im Dunkeln», erinnert sich William. Er hat über 15 Jahre lang fast jedes zweite Wochenende die Produktion geleitet oder selbst aufgelegt. Zwei Jahre später kam die Ernüchterung. «Wir mussten uns eingestehen, dass wir nicht nur Acid Jazz- und Funk-Konzerte veranstalten konnten», sagt Flück. Das Programm musste sich öffnen. Vasco Saxer, der heute auf dem Lagerplatz den Plattenladen «Ventilator Records» führt, übernahm das Booking, holte Bands wie Züri West und Sina nach Winterthur und lancierte die erfolgreichen Partyreihen «Flower-Power» und «Pulp Fiction».
Heute ist das Programm noch immer breitgefächert. «Schall, Schnaps und Rauch» umschreibt Michael das, was das Salzhaus seit 20 Jahren bietet. Während das Gaswerk am 3. September zum Jubiläum das Haus für 20 Stunden öffnet, hat das Salzhaus beschlossen, den Geburtstag nicht in dem Masse zu feiern. Dafür erwartet die Gäste nach dem Sommer eine andere Überraschung. Aber das ist eine Geschichte, die ich noch nicht erzählen darf...