Ein Weihnachtsessen: «Du bist eine Schwuchtel, oder?»

Die Weihnachts- und Neujahreszeit hat mit dem Beginn von 2020 nun wohl ein Ende genommen. Nur noch die letzten nadellosen Tannenbäume neben grauen Müllcontainern und einigen wenige LED-Lichtlein erinnern ans besinnliche Zusammenkommen mit Familie und Freund*innen. Doch was, wenn die Weihnachtsidylle nicht für alle Menschen als solche wahrgenommen werden kann? Und was, wenn das öffentliche Klima in der Schweiz doch nicht so stark von Sittlichkeiten wie Toleranz und Akzeptanz geprägt ist? Es liegt an jedem von uns während dieser Zeit für moralische Werte einzustehen. Ein Kommentar von Joshua Amissah.

Es ist 21:30 Uhr am 1. Dezember 2019 in Zürich und wir haben soeben beim alljährlichen Weihnachtsessen meines Arbeitgebers den letzten Gang genossen. Ich merke, wie mich ein junger Mann aus einem anderen Team mit seinem Blick fixiert, und plötzlich schnellen Schrittes auf mich zukommt. Ohne jegliche Begrüssung meint er grinsend: «Du bist eine Schwuchtel, oder?!» Völlig perplex schaue ich ihn an, frage mich dabei zögernd, wie ich in dieser Situation am besten reagieren soll. Er wiederholt: «Bist du eine Schwuchtel? Eine Schwuchtel bist du, oder?» Ich werde zu einer Stellungnahme gezwungen und antworte mit grösstmöglicher Lässigkeit: «Ja voll, und du?» Lachend schaut er mich an und meint: «Natürlich nicht! Ich bin aus Kriens – und da werden Leute wie du auf der Strasse verprügelt.» Den Konflikt meidend wende ich mich leicht ab und antworte ihm, dass ich folglich froh sei im Kanton Zürich zu wohnen. «Schönen Abend noch» sind die letzten freundlichen Worte, welche ich ihm an diesem Abend entgegne. Ich entscheide mich dafür, das Weihnachtsessen sofort zu verlassen.

Am nächsten Morgen erwache ich mit leichter Verstimmung und werde mit einem Mail unseres CEOs an die Worte des letzten Abends zurückerinnert: «Ich habe von einem Vorfall mitbekommen, kannst du mich bitte anrufen?» Kurz überlege ich mir, es sein zu lassen, um die verletzende Konfrontation schnellst möglich zu verdrängen. Ich erinnere mich an die Erweiterung der Anti-Rassismus-Strafnorm, über welche wir am 9. Februar 2020 abstimmen werden. Die LGBT+ Community fordert einen dringendst notwendigen Diskriminierungsschutz, wobei das Komitee der Gegnerinnen und Gegner primär mit der verfassungsgeschützten Meinungsfreiheit gegenargumentiert und diesen Schutz vor Homohass und Hetze als Zensur abtun. Hasstiraden sind jedoch eindeutig nicht mit konstruktiven Meinungsäusserungen gleichzusetzen. «Sie haben es nicht nötig, per Gesetz zu einer vermeintlich schwachen und schützenswerten Minderheit degradiert zu werden» ist einer der Sätze, welche zur Argumentation gegen die Erweiterung der Anti-Rassismus-Strafnorm gewählt werden. Doch solange solche Konfrontationen an einem vermeintlich friedlichen, gemeinschaftlichen Weihnachtsessen mit einer solchen Selbstverständlichkeit stattfinden können, ist ein solcher Diskriminierungsschutz eben doch nötig. Es ist Ausdruck einer salonfähigen Grundstimmung und ich wurde eindeutig öffentlich degradiert. Genau wie die zahlreichen Opfer brutaler homophober Gewalt im öffentlichen Raum, von denen die Schweizer Medienlandschaft alle paar Wochen wieder berichtet.

Ich greife angespannt zum Hörer und wähle die Nummer unseres CEOs. Auf sachlichste Art und Weise kläre ich ihn über die Vorkommnisse des letzten Abends auf. Ebenso erkläre ich ihm, dass es nun gänzlich in seiner Macht liege, wie er sich nun mit seiner Unternehmenskultur positionieren will. Solche diskriminierenden Äusserungen zu dulden sendet nicht nur moralische, sondern auch politische Signale und ich würde eine Toleranz gegenüber solchen Verhaltensweisen als Mitarbeiter auf keinen Fall akzeptieren. Wenn dem einzelnen diskriminierenden Benehmen keine Konsequenzen drohen, erfolgt langfristig auch keine Verhaltensänderung der kollektiven Haltung. Nebst einer offiziellen Entschuldigung wird mir vollstes Verständnis entgegengebracht und ich kriege kurze Zeit später die Mitteilung, dass der Übeltäter fristlos entlassen wurde. Ein Glück, aber nach heutiger rechtlicher Lage noch keine Selbstverständlichkeit. Aus diesem Grund spreche ich am 9. Februar 2020 ein deutliches Ja zur Erweiterung der Anti-Rassismus-Strafnorm aus – Ja zum Schutz vor Hass und Hetze!

 

Joshua Amissah studierte an der Zürcher Hochschule der Künste. Nebst seiner Tätigkeit als Fotograf, Art Director und Kurator nutzt der Winterthurer Texte als Medium und Reflexion von Zeitgeschehen, Identitäten, Trendbewegungen und gesellschaftlichem Wandel.

 

Bild Tannenbaum:  Installation von Nils Amadeus Lange im Offspace Bild8005.

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