Syrien im Kellertheater

Tausende fliehen nach Europa. Das berührt auch die Kulturszene: Ein zunehmendes Engagement ist zu spüren und neue Perspektiven werden geboten – beispielsweise im Theaterstück «41 Stunden».

«Ach, lass mich in Ruhe. Ich spiele gerade Dr. Schiwago», sagt die Puppe zu Mudar al Haggi. Der syrische Autor hat sich per Skype zum Theaterstück hinzugeschaltet, taucht hinten auf der Leinwand auf und unterbricht das Spiel von Boris L. Pasternaks Geschichte «Dr. Schiwago». Die Puppe, die nicht nur die Rolle von Dr. Schiwago spielt, sondern auch Mudar verkörpert, hat gerade keine Lust auf eine Konfrontation mit sich selbst und der eigenen Situation, sondern will ganz in ihre Rolle eintauchen. Sie will nicht der Mudar sein, der gerade in Beirut ist und nicht weiss, wie es seiner Frau in Damaskus geht oder ob er am 5. März an die Premiere des Stücks «41 Stunden» im Kellertheater Winterthur kommen kann.

«41 Stunden» erzählt die Geschichte einer Schweizer Theatergruppe und eines syrischen Autors, die gemeinsam ein Stück über den Konflikt in Syrien machen und dazu den Bürgerkriegsepos «Dr. Schiwago» benutzen, um an das Thema heranzugehen. Kennengelernt hat die Theatergruppe «Kopp/Nauer/Praxmarer/Vittinghoff» den Syrer Mudar al Haggi im April 2014, als er als «Artist in Residence» für sechs Wochen im Schlachthaus Theater Bern war. Aus der Begegnung entstand ein Projekt, das nun seit zwei Jahren läuft und zeigen soll, was bei einer Begegnung mit jemandem aus einem Krisengebiet passiert. Im Zentrum des Projekt stand für die Schauspieler Philippe Nauer und Priska Praxmarer sowie den Regisseur Dirk Vittinghoff die Frage, ob eine Zusammenarbeit überhaupt möglich ist. Zudem geht es darum, wie wir in der Schweiz mit den Informationen über den Konflikt in Syrien umgehen, was es braucht, um uns sicher zu fühlen, wie die Ängste und Zweifel auf einen syrischen Autor wie Mudar wirken und welches die eigene Perspektive ist. Denn: «In Syrien hat man ganz andere Informationen über den Vormarsch der IS-Truppen als hier in Westeuropa», sagt Schauspielerin Priska Praxmarer.

 

Ein anderes Theaterverständnis

Die Theatergruppe spielt mit Figuren, die auch mal mit den Schauspielerinnen und Schauspielern interagieren können. Mit diesem eigenwilligen Mix zeichnen sie ein aberwitziges, überzogenes und zum Teil schrilles Bild der Gesellschaft. Ein Theaterstil, der Mudar al Haggi fremd ist. Auch an die Arbeitsweise musste er sich gewöhnen. Bei Besuchen in Beirut oder über Skype unterhielten sich Philippe Nauer, Priska Praxmarer und Dirk Vittinghoff mit Mudar oft über die Umsetzung. «Dabei merkten wir, dass wir einen ähnlichen Humor haben. Mudar war nicht brüskiert über die Art, wie wir Sachen umsetzen wollten», erzählt Priska Praxmarer. Keine Selbstverständlichkeit, denn es gab durchaus Situationen, bei denen der Autor das komische Potential einer Szene nicht sah, welche die Theatergruppe sehr lustig fand. Auch die Sprache und die schlechten Skype-Verbindungen förderten Verständnisprobleme, sagt Philippe Nauer: «Wir unterhielten uns mit Mudar in einem Touristen-Englisch. Wenn man sich nicht mit den richtigen Worten ausdrücken kann, ist das Potential, nicht vom gleichen zu sprechen, obwohl man das gleiche meint, natürlich gross.»

«Eine spannende Diskussion war auch diejenige über das Gefühl von Sicherheit. Mudar kommt aus einem Land, in dem zurzeit Bürgerkrieg herrscht. Wir in der Schweiz haben seit 150 Jahren Frieden. Eine so lange Zeit keinen Krieg zu haben, ist für Mudar eine unvorstellbare Idee», sagt Dirk Vittinghoff. In der Schweiz wiederum könne man sich nicht vorstellen, was es heisst, im Krieg zu sein. «Das hat nichts mit kulturellen Hintergründen zu tun, sondern damit, was Krieg mit Menschen macht», ergänzt Philippe Nauer.

 

Ungeahnte Aktualität

Während der letzten zwei Jahre ist zudem viel passiert: «Als wir Mudar kennengelernt haben, war die Flüchtlingsproblematik noch nicht in Europa angekommen. Hier in Europa waren kaum syrische Flüchtlinge, das hat sich nun radikal verändert», erklärt Regisseur Dirk Vittinghoff. Mudar lebte damals bereits in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Am Ende der Produktion von «41 Stunden» ist er nun anerkannter Asylbewerber in Deutschland und lebt in Berlin. «Auch diese Geschichte ist Inhalt unseres Stücks und korreliert sehr stark mit der Aktualität.»

«41 Stunden» ist ein selbstironisches Stück. Sie nehmen sich selbst auf die Schippe und damit auch die Einstellung im Westen grundsätzlich, so die Theatergruppe. Bei den Zuschauerinnen und Zuschauern sollen durch die künstlerische Auseinandersetzung andere Überlegungs- und Denkprozesse ausgelöst werden, als es Nachrichteninformationen können. «Humor ist ein Transportmittel, welches das Publikum akzeptiert. Sobald das Stück didaktisch, schwer oder moralisch ist, holt man das Publikum nicht mehr ab.» Wichtig sei auch, ergänzt Dirk Vittinghoff, «dass man über sich, über das eigene Unvermögen, sich nicht adäquat zu verhalten, lachen kann.»

Tausende von Menschen, die unter widrigen Umständen aus dem Nahen Osten und Afrika nach Europa fliehen, sorgen für hitzige Debatten, für die jede und jeder eine andere Lösung zu haben glaubt. Die Theatergruppe Kopp/Nauer/Praxmarer/Vittinghoff liefert zur Debatte aus ihrer ganz persönlichen Perspektive einen Beitrag. «Es geht nicht darum, zu werten. Wir bringen die Geschichte, die wir erlebt haben, auf die Bühne des Kellertheaters und zeigen, wie Mudar auf uns reagiert», sagt Priska Praxmarer. Und Dirk Vittinghoff ergänzt: «Für uns ist das Thema durch die Begegnung mit Mudar persönlich geworden. Es ist keine abstrakte Auseinandersetzung mit Flüchtlingen, sondern eine persönliche Begegnung.»

«41 Stunden»

Premiere: Samstag, 5. März, 20 Uhr
Weitere Vorführungen: 6./9./11./12./13./16./18./19./20. März
jeweils um 20 Uhr, ausser Samstag/sonntag 17:30 Uhr
Eintritt: CHF 35/25
Kellertheater Winterthur
Marktgasse 53
www.kellertheater-winterthur.ch

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