Wohnen im Winter

Kommt der Winter, wird es kälter – auch in den Stefanini-Wohnungen: Viele sind kaum isoliert. Meist ist ein Holzofen die einzige Wärmequelle. Wer wohnt in solchen Häusern? Eine Reportage.

Weit oben öffnet sich ein Fenster. «Komme gleich und lasse dich herein», ruft Angelina* in die Gasse. Elektronischer Türöffner? Fehlanzeige. Angelina und Simon* wohnen im dritten Stock. Das Haus ist eines von vielen in Winterthur, die Bruno Stefanini gehören. Im ersten Stock ist der Gang breit und mit roten Fliesen ausgelegt. Das Licht, das durch die Fenster fällt, intensiviert die Farbe des Bodens. Auf der nächsten Etage bedeckt ein alter Spannteppich die Holzdielen. Viele Schuhe hinterliessen hier ihren Dreck. Es geht weiter steil nach oben. Das Treppenhaus ist schmal. Die ganzen Einkäufe hier hochschleppen? Nein danke. An den äusseren Enden der Treppenabsätze fangen alte Spinnweben den Staub. Gleich gegenüber der Treppe befindet sich eine separate Holztür. Im Raum dahinter stapelt sich auf der rechten Seite das Holz zum Heizen bis unter die Decke. Vor dem Doppelfester am Ende des Zimmers steht eine kleine Holzbank, von der aus man in den Innenhof hinabblickt. Mehr gibt es nicht zu sehen. Die Tür schliesst sich wieder.

An der Wand neben der Eingangstür lehnen ein Bild und ein Möbel, die wohl noch keinen Platz in der Wohnung gefunden haben. Wohlige Wärme, die von einem Holzofen stammt, füllt den Raum. Wie ist es wohl in der Wohnung, wenn man ein paar Tage nicht heizen kann? «Die Temperatur ist bis jetzt (Mitte Dezember) noch kein Problem», sagt Angelina. Es sei bisher ein milder Winter gewesen. Die Wärme des Ofens vermag aber leider nur das Wohn- und Schlafzimmer zu heizen. Auf der Toilette sei es beispielsweise immer kühl. Im Gegensatz zum Sommer: Dann sei es in der Dachwohnung unangenehm heiss, weil sie kaum isoliert ist.

Das Arbeitszimmer von Angelina befindet sich gleich rechts von der Eingangstür. Quer durch den Raum ist eine Wäscheleine gespannt. Ein schlichter Holztisch steht an der Wand. Auf diesem hat sich eine Menge Büromaterial angesammelt. Neben dem Tisch ist vor langer Zeit ein Lavabo in die Wand eingelassen worden. Das Badezimmer sei sozusagen in der ganzen Wohnung verteilt, erzählt Angelina. Die Duschkabine befinde sich gleich neben der Küche, von der aus ein schmaler Gang zur Toilette führt. Nicht gerade eine komfortable Wohnsituation.

Überall in der Wohnung findet man Hinweise auf längst vergangene Zeiten. Von der Küche sieht man durch ein Fenster in der Wand in das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer. Bevor man in das Wohnzimmer tritt, hat es auf der rechten Seite einen Klingelknopf, der sogar noch funktioniert. Mitten in der Wohnung. Im Wohnzimmer bemerkt man auf der linken Seite einen doppeltürigen Wandschrank. Diese Türen lassen sich nicht mehr öffnen, sie wurden von den Stefanini-Handwerkern in eine Wand umfunktioniert. Man könnte es wohl Bausparmassnahmen der etwas anderen Art nennen. Doch genau diese Dinge machen den Charme der Wohnung aus.

Duschen in der Küche

Mitten in der Altstadt, bei Emma* und Lorenz*, funktioniert nicht einmal die Klingel. Nach einem kurzen Anruf kommt Lorenz nach unten und öffnet die Eingangstür. Auf der Innenseite der Haustür hängt ein ausgeleierter Flachskorb. Der fängt die Post, die durch den Türschlitz fällt, auf. An der Wand, gleich unter der Decke, hängt ein Fahrrad. In der Wohnung befinden sich neben der Eingangstür zwei weitere Türen. Beide führen ins Wohnzimmer, in dessen Mitte ein freistehender Pfosten eine ehemalige Wand vermuten lässt. Ein schlichter Tisch, auf dem eine sympathische Unordnung herrscht, steht im Raum. Verschiedenartige Stühle reihen sich der Tischkante entlang. Vom Wohnzimmer aus führt eine verzogene Holztür, die kaum mehr in den Rahmen passt, auf eine abfallende Terrasse. Zwischen Tür und Rahmen hat es keine Gummiabdichtung, sodass weder Kälte noch Wärme dableiben, wo man sie gerne hätte. Sie seien sehr froh um die Doppelfenster, die doch noch einen gewissen Isolationswert hätten, sagen Lorenz und Emma. Im Winter könne es aber trotzdem empfindlich kalt werden. Von der Terrasse blickt man in den Innenhof. Eine Oase der Ruhe, unbekannt und unzugänglich für die Öffentlichkeit, mitten in Winterthur. Die Küche in dieser Wohnung ist gleichzeitig auch ein bisschen Badezimmer. Da sind ein weisser Gasherd und ein schwerer Steintrog und da stehen auch ein Waschturm und daneben die Dusche. «Man gewöhnt sich schnell daran, in der Küche zu duschen», schmunzelt Lorenz. Für ihn steht und fällt diese Art des Wohnens mit Bruno Stefanini, dem Eigentümer von schätzungsweise 5000 Mietwohnungen in Winterthur. Nach dessen Ableben werde der günstige Wohnraum wohl in teure Luxuswohnungen umgewandelt, vor allem in der Altstadt. Es herrsche grosse Verunsicherung. Die Wohnraumstrategie der Stadt lässt Ähnliches erahnen. Ihr Konzept sieht die Förderung von mittlerem und teurem Wohnraum vor, während das untere Segment lediglich in einem Nebensatz erwähnt wird.

 

Die Freiheit, selbst zu renovieren

Theo* wohnt am Rande der Altstadt in einer ruhigen und malerischen Gasse. Das Treppenhaus ist düster, der Boden aus kaltem Stein. Nach dem Eintritt in die Wohnung, einen billigen Bodenbelag unter den Füssen, steht man sogleich in der Küche. Auch hier sind die Möbel wild durcheinander gewürfelt. Oberhalb der Küchenabdeckung, in weiss getünchte Schränke mit Schiebetüren, wurden Geschirr und Küchenutensilien einquartiert. Ein kleiner Kühlschrank, gerade Platz für den Wocheneinkauf, befindet sich neben dem Gasherd. Gleich gegenüber hat jemand ein Regal mit schmalen Leisten in die Wand gelassen. Auf dem Regal sammeln sich Figuren, Flyer, Tassen und viele weitere kleine Dinge. Da hängt ein Foto von einer Rugbymannschaft, mitten drin Theo.

Von der Küche gelangt man direkt ins Wohnzimmer. Alte Kameras dekorieren die rechte Wand. Hier darf man wohl so viele Nägel in die Wand hauen, wie man will. Davor steht ein Grafikertisch, auf dem ein Computer seinen Platz gefunden hat. Theos Arbeitsplatz wird mit einem schlichten Holztisch ergänzt, auf dem sich alltägliche Dinge sammeln. Gleich gegenüber steht eine Couch an der Wand, daneben ein hübscher Stoffsessel. Theos Heim sei zu einem Treffpunkt für seine Freunde und Bekannten geworden. Seine Wohnung habe Charme, sei sein Bijou. Theo verbringe seine Zeit sehr gerne und oft zuhause. «Für mich gibt es keine Nachteile, die das Leben hier einschränken würden. Auch die Kälte macht mir nichts aus.» An der Ecke zur Küche steht eine Gasheizung, die einzige Wärmequelle. Er habe einiges umgebaut: Zum Beispiel hat Theo die Toilette selbst renoviert. Zudem plant er den Boden im Wohnzimmer auszuwechseln. «Da die Miete tief ist, kann ich diese Umbauten aus der eigenen Tasche finanzieren.» Er geniesst die Freiheit, raumgestalterisch so ziemlich alles tun und lassen zu können, was er will.

Theos Lieblingsplatz im Sommer ist der grosse Balkon hinten am Haus. Da hängen Lichter in verschiedenen Farben. Der Blick fällt auf die gegenüber liegenden Häuser. Unterhalb der Terrasse ist ein grosser Garten, dort steht Monika*, die Nachbarin von Theo. «Hallo Monika, sieh mal, das Coucou ist da und schreibt eine Reportage über das Wohnen im Winter in Stefanini-Häusern. Magst du ihm auch noch was erzählen?», fragt Theo und lacht in den Garten hinunter.

«Ich betreibe ein Wildgartenkonzept. Der Garten wird nie vollendet sein», erzählt Monika stolz. Sie wohnt bereits seit 1979 in diesem Haus. Nach Winterthur gekommen sei sie durch einen Freund, den sie auf Reisen durch Israel kennenlernte. Sie sind noch heute eng befreundet. Während Monika erzählt, sammelt sie magere Ulmenäste auf. Auch ihre Wohnung hat lediglich eine Holzheizung. «Die Äste lasse ich trocknen und benutze sie zum Entfachen des Feuers. Und während der Weihnachtszeit gehe ich an den Weihnachtsbaumverkauf vor dem Oskar-Reinhart-Museum und sammle die Abschnitte der Tannenbaumstämme. Diese wärmen im nächsten Jahr meine Wohnung.» Monika kommt ohne viel Komfort aus. Sie sei eine sehr genügsame Person, das einfache Leben gefalle ihr. An den Wänden des Treppenhauses hängen Plakate aus dem letzten Jahrhundert. Zeugen längst inszenierter Theatervorstellungen, Konzerte und politischer Manifestationen. Die Toilette auf der Laube und ihr Schlafzimmer sind nicht beheizbar. Im Winter schlafe sie mit einem Kirschsteinkissen, um warm genug zu haben. Die Küche und das Wohnzimmer sind durch einen Gang vom restlichen Wohnbereich abgetrennt. Auf den Regalen in der Küche stapeln sich selbstgetrocknete Kräuter und Tees. Den Abwasch mache sie von Hand, was ihr überhaupt nichts ausmache. Der schwarze Kanonenofen steht im angrenzenden Wohnzimmer. Auf den Wandregalen sammeln sich Monikas Bücher. Mehrere Tische und ein grosses Sofa, scheinbar ohne Konzept angeordnet, nehmen viel Raum ein.

 

Kälte macht solidarisch

Remo* und Ella* sitzen mit ihren zwei Kindern am Frühstückstisch. Gelächter und Stimmen erfüllen den Raum. Der Esstisch nimmt sehr viel Platz ein. Ein altes Sofa mit geschwungener Lehne steht neben einem grünen Kachelofen. Ein perserähnlicher Teppich bedeckt den hellen Parkettboden. Weiss gestrichene Doppelfenster lassen das Sonnenlicht in den Raum strömen. Plötzlich öffnet sich die Wohnungstür und Patrick* tritt ein, auf dem Arm sein kleiner Sohn. Patricks Familie wohnt gleich obenan. «Die Hausgemeinschaft, in der wir hier leben, ist grossartig», sind sich alle einig, «wir verstehen uns prächtig. Der Respekt und die gegenseitige Akzeptanz sind hoch», sagt Ella. So hat man beispielsweise einen Mittagstisch für die Kinder eingerichtet. Oder wenn das Holz für den Winter geliefert wird, tragen die Bewohner und Bewohnerinnen das Holz gemeinsam in den Keller. Und das ist nicht gerade wenig. Denn in jeder Wohnung gibt es einen Holzofen. Dadurch nehme man die Jahreszeiten bewusster wahr. In harten Wintern hätten sich auch schon Eisblumen an den Fenstern gebildet. Oder einmal seien die Wasserleitungen einer Wohnung zugefroren. Doch Kälte mache solidarisch, man helfe sich dann gegenseitig aus. Glücklicherweise sei dieser Winter bis jetzt sehr mild. Trotz dem wärmenden Feuer in der Küche, ist es kühl in der Wohnung von Ella und Remo. Patrick trägt eine Kappe und warme Hausschuhe. «Man gewöhnt sich an die Kälte und weiss, dass man sich entsprechend anziehen muss», sagt er. Im Treppenhaus-Abschnitt, der zu seiner und Jamies* Wohnung führt, stehen eine Menge Topfpflanzen. Das Badezimmer ist sehr eng, schliesst man die Tür, reicht der Platz lediglich für eine Person. Eine Badewanne füllt den halben Raum. Was auffällt, ist der Durchlauferhitzer neben der Duschbrause, so etwas sieht man nur noch selten.

Weder Patrick und Jamie noch Remo und Ella sehen einen Nachteil in dieser Art des Wohnens. Ganz im Gegenteil: Sie geniessen die Möglichkeiten, die sie dadurch erhalten. Im riesigen Garten können sich die Kinder austoben. Im Sommer grillen alle Hausbewohner zusammen. «Von der Nachbarschaft werden wir liebevoll «Hippie-Haus» genannt, obwohl wir mit Hippies in dem Sinne nichts zu tun haben», sagen sie und lachen. Durch die tiefen Mieten können sie Geld sparen und haben Zeit, die sie vor allem in die Erziehung ihrer Kinder und in ihr kulturelles Engagement für Winterthur investieren. Sie gehören zudem der Interessensgemeinschaft Bewohner und Bewohnerinnen sowie Benutzerinnen und Benutzer von Stefanini-Liegenschaften an. Die Ziele der IG sind, die Bewohnerinnen und Benutzer zu vernetzen, Solidarität zu fördern und einen Erfahrungsaustausch anzuregen. Sie kämpfen für den Erhalt von billigem Wohnraum und vertreten die Interessen der Bewohnerinnen und Bewohner gegenüber der Verwaltung von Stefanini.

Preiswerte Mieten, eine zentrale Wohnlage, Geld und Zeit für kulturelles und soziales Engagement. Das klingt nach purem Luxus. Luxus der etwas anderen Art, denn für diese Freiheiten leben die Bewohnerinnen und Bewohner in kaum isolierten Häusern und Heizen mit Holz. Die nötigen Renovationen müssen selbst finanziert und erledigt werden. Das Wohnen in Stefanini-Häusern hat somit klare Vorteile, die man sich aber mit ebenso klaren Abstrichen im Komfort erkaufen muss. Zufrieden sind, so scheint es, bei diesem «Deal» momentan beide Seiten.

 

*Die Namen der Personen, welche in diesem Text zu Wort kommen, wurden geändert.

 

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