Kritzeln. Sirren. Klappern. Hobeln. – So klingt die Geräuschkulisse des geschäftigen Treibens von Menschen, die Geräuschkulisse eines früheren Industrieortes, der heute für Urbanität und Kreativität steht. «Das Lagerplatz-Areal wird zu einem neuen Stadtteil von Winterthur», sagt die Architektin Valerie Waibel in einem Interview, das im November in einer Publikation der Stiftung Abendrot erscheint, welche seit 2009 die neue Eigentümerin des Lagerplatzes ist. «Früher war die gesamte Fläche von der Grösse der Winterthurer Altstadt durch einen hohen Zaun für die Öffentlichkeit gesperrt. Bis vor 20 Jahren konnte also nur herein, wer hier arbeitete.» Heute ist das Gegenteil der Fall: Das Areal bietet neben Arbeitsraum zahlreiche Angebote für Freizeit und Vergnügen. Es wandelt sich, wird mit jedem neuen Projekt ein Stück weit öffentlicher und geselliger. Doch das sei alles erst im Entstehen, betont Waibel, die ihr Büro auf dem Lagerplatz hat. 20 Jahre seien keine lange Zeit. Und doch ist die neue Stadt schon jetzt sichtbar: «Beim Portier geht es bereits heute in diese Richtung. Vielleicht wird dies in Zukunft die Stimmung auf dem Areal sein: Menschen, die in Ruhe einen Apéro geniessen, Touristen, die im Hostel zu Besuch sind, herumrennende Kinder...» Und wie kann man sich den Lagerplatz in 30 Jahren vorstellen? «Gestalterisch wird sich wohl nicht viel ändern», sagt der Architekt Eric Honegger. Die Nutzung der alten Industriegebäude wird durch deren Architektur bestimmt. «Die Nutzer werden sich abgelöst haben. Es gibt jedoch keinen Grund, weshalb die Hallen in den nächsten 30 Jahren komplett anders genutzt werden sollten. Da erwarte ich keinen grossen Sprung: Es wird ähnlich sein wie jetzt, ausser dass die Leute graue Haare haben und mit Rollatoren herumkurven werden.»
Dialog zwischen Vergangenheit und dem Jetzt
Ein Ort, der von vielen Menschen besucht und genutzt wird, ein Ort für Familien, ein Ort, an dem man flanieren wird – wie in der Altstadt. Doch was unterscheidet den Lagerplatz von der alten Innenstadt? Wird er zu einem eigenen visionären Stadtteil, der dem Pioniergeist gerecht wird, der in vergangenen Zeiten auf dem Areal spürbar war?
In Grafikbüros wird gekritzelt, Fingerkuppen klappern über die Tastatur. Grosse Ideen lärmen höchstens im Kopf. Der Lagerplatz ist nicht nur ein Standort für Geschäfte, sondern auch ein ideeller Ort, an dem über Um- und Zwischennutzungen nachgedacht wird und ein Austausch stattfinden kann – in Gesprächen in einem der Cafés und Bars, in den Ateliers oder eben im neu entstehenden Kino Cameo. Unter dem Dach der Lagerhalle 192 wird am 24. Oktober mit einer Fülle an Filmen – darunter «Back To The Future» – der Dialog zwischen Vergangenheit und dem Jetzt eröffnet. Das neue Programm-Kino verpflichtet sich dem Reprisen-Film der neuern und älteren Filmgeschichte und berücksichtigt Filme aller Genres und aus allen Weltregionen. Es ist aber auch zugleich Arthouse-Kino, das aktuelle Studiofilme als Premieren zeigt. Ein Kino, das dem nicht kommerziellen Film in Winterthur einen Raum gibt. Ein Raum, der bisher in der Stadt fehlte. «Bis heute gibt es in Winterthur kein eigenständiges Programm-Kino mit einem Wochenbetrieb. Wir möchten diese Lücke schliessen», sagt Rolf Heusser, Mitglied des Vereins Filmfoyer Winterthur, der sich seit den frühen 1970er-Jahren für die Filmkultur in der Stadt und Region Winterthur engagiert. An sechs Tagen pro Woche werden Filme gezeigt. Spezialveranstaltungen und Kooperationen, unter anderem mit den Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur, sollen das neue Kino zu einem Ort machen, an dem Filmkultur für ein breites Publikum lebendig wird. Der Lagerplatz als Ort des filmkulturellen Aufbruchs?
Sicher ist, dass der Lagerplatz nicht nur zu einem Ort des kulturellen, sondern verstärkt auch zu einem Ort des sozialen Austauschs wird. Das Kino beherbergt eine kleine Bar, gleich nebenan bereichert das Bistro «Les Wagons» ab diesem Herbst das kulinarische Angebot auf dem Areal. In einem Ensemble der ersten elektrischen Uetlibergbahn – bestehend aus Triebwagen, Personenwagen und Gepäckwagen – werden Kaffee, lokales Bier und täglich wechselnde Mittagsmenüs serviert. Ein neu errichtetes Perron lädt im Sommer draussen zum Verweilen ein.
Gemeinsames Engagement zur richtigen Zeit
Der Lagerplatz ist «ein Glücksfall in der Entwicklung des ganzen Sulzerareals», wie Stadtpräsident Mike Künzle gerne und oft betont. Und für dessen Amtsvorgänger Ernst Wohlwend ist es «eine der schönsten Geschichten» seiner politischen Tätigkeit. Dass diese Umnutzung unter Erhalt der alten Substanz gelang, freut ihn bis heute. Was allerdings von vielen Seiten guten Willen verlangte: «So etwas schafft man nicht alleine: Viele Leute haben da mitgemacht, vieles kam zur richtigen Zeit zusammen», erinnert sich der ehemalige Stadtpräsident. Weder Grossprojekte wie «Winti Nova», bei dem das Areal abgerissen worden wäre und ein komplett neuer Stadtteil hätte entstehen sollen, noch die Stararchitekten-Idee «Megalou» von Jean Nouvel und Emmanuel Cattani hätten der «toten Stadt» das Wesentliche zurückgebracht. Das neue Leben konnte nur entstehen, weil kleine Projekte auf dem Areal eine Chance bekamen.
Selbst aktiv werden – das ist die Idee, die auch im Machwerk seit einem Jahr umgesetzt wird – und dem Grundgedanken des ArealVereins entspricht. In den Werkstätten wird in Kursen und Workshops Wissen zum Gestalten, Werken und Tüfteln weitergegeben. Es wird gehobelt, gehämmert, gesagt und gedruckt. Im 1. Obergeschoss der Halle 193 – der ehemaligen Spedition und Malerei – haben sich das Keramikwerk, die Schreinerei Unterholz, die Werkstatt Siebunddruck, ein Co-Working-Raum und der Kulturraum «Langeweile» eingerichtet. Das Programm des Kulturraums gestaltet sich durch Lesungen, kleine Konzerte, Kleidertausch, Diskussionsrunden, Sprachkurse, Treffen oder Filmabende, alles organisiert von engagierten Menschen, die so einen weiterer Ort des Austauschs ermöglichen.
Neuer Projekt- und Ausstellungsraum
Zu einer lebendigen Stadt gehören natürlich auch Orte für Kunst. In der Innenstadt sind diese mit der Kunsthalle, dem Kunstmuseum, dem Museum Oskar Reinhart, dem Gewerbemuseum und der Altem Kaserne sowie diversen Winterthurer Galerien vertreten. Auf dem Lagerplatz steht die Galerie Labüsch des Künstlers Chris Pierre Labüsch und an der Jägerstrasse gleich um die Ecke wird in der Galerie Knörle und Bättig lokale und internationale Kunst gezeigt. Am 5. Dezember eröffnet nun ein weiterer Projekt- und Ausstellungsraum, der das Winterthurer Ausstellungsangebot noch bereichern wird. Die Winterthurer Künstlerin Lydia Wilhelm und die Kunsthistorikerin Nicole Seeberger wollen im ehemaligen Ofen auf dem Lagerplatz jungen, lokalen Künstlerinnen und Künstlern eine Ausstellungsplattform bieten und zugleich regionale und nationale Kunstpositionen in Winterthur präsentieren. «On.Off» heisst der Ausstellungsraum, der zugleich auch Plattform sein soll. Als Ergänzung zu den sechs Ausstellungen im Jahr sollen Veranstaltungen im Zusammenhang mit den jeweiligen Kunstpositionen angeboten werden. Um den überdachten Platz rund um den ehemaligen Ofen im westlichen Lagerplatz-Arealgebiet weiter zu beleben, können zudem Diskussionsabende, Künstlergespräche oder auch mal Konzerte und Lesungen stattfinden.
Zahlreiche weitere Projekte sind noch in Planung, darunter Räume für die ZHAW oder eine Genossenschaft für neue Wohnformen im Alter. Ob sie den Lagerplatz zu einem lebendigen Quartier oder gar zu einem zweiten Zentrum werden lassen, wird sich zeigen. Doch der Pioniergeist, der einst das Areal belebte, ist heute wieder verstärkt spürbar.
Im November 2015 erscheint in der Edition Denkstatt Basel die von der Stiftung Abendrot herausgegebene Publikation zum Lagerplatz: «Lagerplatz Winterthur – Ein Industriequartier im Wandel». Mit einem Vorwort von Werner Hartmann, Texten von Hans-Peter Bärtschi, Barbara Buser und Stephan Mäder sowie Interviews von Katharina Flieger und Fotoessays von Vanessa Püntener und Martin Zeller. Redaktion: Tabea Michaelis und Tilo Richter. Ca. 120 Seiten, Klappenbroschur. Erhältlich beim Portier und im Buchhandel.