Ein himmlisches Experiment

Das Pilotprojekt «Kulturkirche» soll ein Gotteshaus in Veltheim weiteren Kreisen zugänglich machen. Eine Gratwanderung zwischen Tradition und Innovation.

Nicht, dass es uns täglich auffallen würde, aber Umnutzungen von Gebäuden sind fest in unserem Alltag verankert. Das Salzhaus. Das Toni-Areal. Die Kammgarn. Namen, die auf frühere Funktionen hinweisen, auf tote Projekte – aus denen Neues hervorging, das lediglich im Titel noch seinen Ursprung trägt.

Was im letzten Jahrhundert mit vielen Fabriken geschah, droht nun den Kirchen. Sie werden weniger genutzt, kosten zu viel, werden leerer. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund schreibt, dass eine Kantonalkirche jährlich Mitglieder in der Grösse einer ganzen Kirchengemeinde verliere. Basels Kirchen bieten Platz für 990'000 Menschen, während die Mitgliederzahl auf 30'000 gesunken ist. In Zürich kämpfen die Reformierten mit achtstelligen Unterhaltskosten für ihre Kirchen. Und die neu-apostolische wie auch die evangelisch-methodistische Kirche haben in den letzten Jahren Dutzende ihrer Kirchen verkauft. In der Schweiz werden daraus Ateliers, Quartier-Cafés, Wohnhäuser. In Italien Autowerkstätten und Pizzerias. In Amsterdam wird im Club Paradiso zu unchristlichen Zeiten wild gefeiert.

In der Schweiz sind solche Umnutzungen von Kirchen keine einfache Angelegenheit. Sie sind aber auch nicht zwingend nötig: Es gibt die Möglichkeit, die Nutzung der Kirche auszuweiten. Sie behält also ihren christlich-religiösen Grundcharakter, öffnet sich aber für Anlässe und Ideen, die traditionell nicht in Gotteshäusern stattfinden. Eine unterstützte Auferstehung, ohne die Grundidee an den Nagel zu hängen.

Die Kirche bleibt im Dorf

«Kulturkirchen» werden die erweiterten Gotteshäuser oft genannt, und in Winterthur soll eine solche entstehen. Es ist die Kirche Rosenberg, ein vergleichsweise moderner Bau aus den 1960er-Jahren; ein an ein Schiff erinnerndes Gebäude neben dem Rosenberg-Friedhof im Stadtkreis Veltheim. 300 Leute finden Platz im Kirchenraum, zusätzliche 150 in einem Saal mit Küche. Allerdings verfügt Veltheim auch über eine Dorfkirche, und diese reicht aus für die Gottesdienste. Gleichzeitig sind in der wenig genutzten Rosenberg-Kirche Renovationen in der Höhe von bis zu 8 Millionen Franken nötig. Das Dilemma machte kreativ: Es bildete sich die Kommission «Zukunft Kirche Rosenberg», die das Konzept einer Winterthurer Kulturkirche entwickelt hat.

Das Konzept macht eine klare Ansage: «Die Kirche Rosenberg der reformierten Kirchgemeinde Winterthur Veltheim soll in Zukunft nicht mehr für traditionelle kirchliche Aktivitäten genutzt werden.» Und doch soll sich das Zielpublikum der Kirche verbunden fühlen, der Raum für kirchliche Aktivitäten genutzt werden – oder mindestens Aktivitäten, die den Leitlinien entsprächen. Die Kulturkirche ist als Pilotprojekt geplant: Zwei Jahre lang soll sie laufen, um zu sehen, welche Formate funktionieren.

Braucht es denn Kultur in der Kirche? – David Hauser schmunzelt etwas. Als Leiter der Kommission «Zukunft Kirche Rosenberg» werden ihm derartige Fragen öfters gestellt. «Kultur war schon immer Teil der Kirche», sagt Hauser, der in der Kirchenpflege Veltheim für das Ressort «Spiritualität und Erwachsenenbildung» zuständig ist. «Die wichtigere Frage ist: Was kann die Landeskirche tun, um aus ihrer Baisse herauszukommen?» Denn ja, auch die reformierte Kirche Winterthur steht einer drohenden Leere gegenüber: Zwischen 90 und 95 Prozent der Mitglieder gehen weder sonntags noch für weitere Angebote in die Kirche. Eine niederschmetternde Zahl. «Städte sind aber keineswegs Orte ohne spirituelle Bedürfnisse», gibt Hauser zu bedenken. Er spricht von einer «Ent-Säkularisierung des urbanen Raums»: Spiritualität sei durchaus ein Bedürfnis, jedoch nicht mehr so stark an kirchliche Institutionen gebunden wie früher. Die Idee der Winterthurer Kulturkirche sei es, das Stigma des herkömmlichen Kirchengangs loszuwerden. «Wer an einem Anlass der Kulturkirche teilnimmt, soll nicht fest einer Gemeinschaft zugeschrieben werden», so Hauser. «Die Herausforderung für uns ist es, den Raum offen und den Zugang niederschwellig zu halten.» Niemand solle Hemmungen haben, sich eine Ausstellung oder ein Theater anzusehen, nur weil der Anlass in einer Kirche stattfindet.

Das Wort «offen» ist das vielleicht meistgebrauchte Wort von den Zuständigen des Kulturkirchen-Projekts. Das könnte an der sogenannten Sinus-Studie liegen, einer aktuellen Studie, die die Zürcher Landeskirche in Auftrag gegeben hat. Winterthur hat gar etwas mehr investiert, um genau herauszufinden, welche Bevölkerungskreise sich noch für die Kirche interessieren. Das Ergebnis sagte vor allem eines aus: Die Kirche wird als eine Art VIP-Club wahrgenommen, ein Kreis, in den reinzukommen nicht einfach ist. Genau diesen Kreis will die Kulturkirche ausweiten. Entscheidend beim Pilotprojekt wird sein, ob es gelungen ist, eine neue Community um die Kirche Rosenberg aufzubauen.

 

Flexibler als die Vorfahren

Zumal das Konzept der Kulturkirche Winterthur bisher noch einzigartig ist in der deutschsprachigen Schweiz, gibt’s haufenweise Vorbilder in Deutschland. Dort haben sich landesweit schon so viele Kirchen der Kultur geöffnet, dass es ganze Bücher drüber gibt und eine App, die die unterschiedlichen Standorte auf einer Karte anzeigt. Hauser hat gar einige besucht, zur Inspiration. Düsseldorf, Lübeck, Bremen und Berlin hat er sich angesehen, um die Organisation, die Finanzierung, vor allem aber das Angebot zu studieren. Hauser erzählt von Cafés, Fotoausstellungen und Tischgemeinschaften, berichtet von einem Premierengottesdienst, der eine Stunde vor jeder Theaterpremiere des Bremer Stadttheaters gehalten wird.
Ohnehin ist die zeitliche Flexibilität von Kulturkirchen ein wesentlicher Unterschied zu traditionellen Anlässen. In einer Kulturkirche in Lübeck, schildert Hauser, fände einmal im Monat an einem Samstag um elf Uhr nachts eine Lesung, ein Theater oder eine Tanz-Performance statt. Eine Kulturkirche soll flexibler, aktueller sein als ihre traditionellen Vorfahren – und spartenübergreifend unterschiedliche Menschen ansprechen.

Kulturkirchen: Eine Konkurrenz zum bestehenden Angebot? «Wir wollen den Sonntagsgottesdienst nicht konkurrieren», stellt Matthias Erzinger klar. Er agiert als externer Berater und Projektleiter der Kulturkirche Winterthur. Auch ein simples Kulturzentrum sei nicht der Plan, «das braucht es nicht», findet Erzinger. «Aber wir wollen etwas tun für die, die Kirchensteuern zahlen und nichts davon haben. Das ist kein Missionieren, sondern der Mut, etwas Neues auszuprobieren.»

Neu ist auch, dass die Räumlichkeiten gemietet werden können. Die Kulturkirche soll also auch Fremdveranstaltungen erlauben, solange diese den «kirchlichen Leitlinien» entsprächen, so das Konzept. Wie diese aussehen, ist nicht weiter ausgeführt. «Das höchste No-Go ist das Verhöhnen von Menschen», sagt Hauser dazu. Und wie sieht’s aus mit Anlässen, die normalerweise nicht in Kirchen stattfinden? Yoga-Lektionen? «Warum nicht? Winterthurer und Winterthurerinnen interessieren sich sehr für Buddhismus.» Ein Rock-Konzert? «Selbstverständlich, es ist keine Frage der Sparte.» Unkonventionelle Beerdigung? «Ja. Die Möglichkeit besteht, dass nebenbei sowieso noch eine Installation oder Ausstellung am Laufen ist.»

Die Rosenberg-Kirche in Veltheim bleibt also eine Kirche. Sie öffnet sich aber auch gegenüber Formen der Kultur, die es bisher kaum in Gotteshäuser geschafft haben. Dieses Projekt rief Gegnerinnen und Gegner auf den Plan, die das Konzept als elitär und zu schwammig ansehen. Die lauten Gegenstimmen fanden Gehör: Sieben Mitglieder der Zentralkirchenpflege haben das Referendum ergriffen. Nun müssen die Reformierten der Stadt Winterthur am 22. November darüber abstimmen, ob die 450'000 Franken für die zweijährige Testphase gestattet werden – oder ob das Wort «Kultur» in «Kirche» keinen Platz hat.

Bildkonzept: Daniele Kaehr und Maya Wipf haben das Thema Umnutzung in einem eigens fürs Coucou erarbeiteten Bildkonzept interpretiert und lltagsgegenstände zweckentfremdet.

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