Ab- und Aufbruch auf einen Schlag

Ab- und Aufbruch auf einen Schlag

Der Verein oxyd Kunsträume zieht nach 20 Jahren von Wülflingen ins Stadtzentrum und feiert Abschied und Neuanfang mit einem vierwöchigen Kunstfestival.

Der Boden bebt, Staub wirbelt auf, Gips- und Betonschutt liegen über dem Boden zerstreut. Es ist Juli. Für den Abriss, der den oxyd Kunsträumen in Wülflingen Ende Jahr bevorsteht, ist es noch viel zu früh. Doch das Einreissen der ersten Wände ist gewollt. Für ein einmaliges Projekt braucht der Verein nämlich mehr Platz in seinen Räumlichkeiten: Nach über 20 Jahren im ehemaligen Lagerhaus beim Bahnhof Wülflingen findet vom 13. September bis 6. Oktober die letzte grosse Ausstellung statt. Wobei das Wort Ausstellung dem Vorhaben nicht gerecht wird: Es wird ein vierwöchiges Kunstfestival, eine imposante Abschiedsfeier, an dem sich über 70 Künstler*innen und zahlreiche Gäste aus der ganzen Stadt beteiligen.

 

Das Kunstfestival ist allerdings nicht nur «eine Liebeserklärung an alle Wegbegleiter*innen», wie es Eve Hübscher beschreibt, sondern symbolisiert auch den bevorstehenden Aufbruch. Seit Frühling ist sie künstlerische Leiterin des oxyd und zuständig für die Zukunft der Kunsträume. Wie sich diese gestalten wird, ist erst seit ein paar Monaten klar. Nachdem der Besitzer des ehemaligen Lagerhauses angekündigt hatte, dass das Gebäude einer Wohnüberbauung weichen wird, hielt der Verein lange nach Räumlichkeiten Ausschau, in denen das oxyd in der bisherigen Form weitergeführt werden könnte. Doch die Suche blieb erfolglos und bald sah man ein: Einen Ort, der genug Platz für Ausstellungen, günstige Ateliers, Werkstätten und Räume für Kunstpädagogik bietet, wird man in Winterthur nicht finden. Künstler und Vereinspräsident Andreas Fritschi, der das oxyd in den letzten zwei Jahrzehnten aufgebaut hat, wollte das Projekt jedoch nicht beenden. Er holte junge, gut vernetzte Kulturschaffende ins Boot und erarbeitete mit ihnen Nutzungskonzepte für das Zeughaus, die Halle 53 und verschiedene andere Standorte. Doch auch hier scheiterten alle Optionen.

 

200 Quadratmeter mehr Platz

Ende 2018 kam dann die erlösende Nachricht: Die Stadt Winterthur überlässt dem Verein mit einem unbefristeten Mietvertrag einen 500 Quadratmeter grossen Kellerraum unter dem Kornhaus an der Vogelsangstrasse. Und weil sich die Stadt der Bedeutung des oxyd für das regionale Kunstschaffen bewusst ist, beteiligt sie sich mit 150'000 Franken an den Umbaukosten, die bei 300'000 Franken liegen werden. Ab 2020 hat das oxyd somit 200 Quadratmeter mehr Ausstellungsfläche als am bisherigen Standort. Ein Glücksfall – mit einem kleinen Wehmutstropfen: Es gibt am neuen Ort keine Möglichkeit, die Atelierplätze weiterzuführen, was vor allem die Künstler*innen schmerzt, die im oxyd ein Zuhause für ihr kreatives Schaffen gefunden hatten.

 

Ein Ort mitten in der Partymeile, ein langgezogener Keller ohne Tageslicht: Da bietet es sich an, die Kunsträume komplett anders zu denken und darin Neues zu wagen. Und genau das hat Eve Hübscher zusammen mit ihrem Team Peter Grüter, Stefanie Frey, Andreas Fritschi, Franca Bernhart, Pascal Mettler und Fant Wenger (und vielen weiteren Personen, die im Hintergrund tätig sind) vor: Als nicht-gewinnorientierter Ausstellungs- und Experimentierraum wollen sie eine Plattform sein für das regionale Kunstschaffen und dieses mit unabhängigen Kunsträumen im In- und Ausland vernetzen. Es soll ein Ort sein, an dem inhaltliche sowie orts- und generationenübergreifende Dialoge stattfinden und Fragen zur Bedeutung von Kunst und Kultur in unserer Gesellschaft verhandelt werden.

 

Das Pilotprojekt «Kreissaal»

Dazu gehört auch, dass man Neues erproben, testen und diskutieren kann: «Das oxyd mag Kunst. Das oxyd mag Geistesblitze, Überraschungen und Intuition. Das oxyd mag Konventionen, Regeln und Grenzen zum Ausloten, Hinterfragen, Überschreiten, Enthüllen und Umstürzen», ist im Leitbild festgehalten. Das ist nicht nur eine Ansage an das regionale Kunstschaffen, sondern auch an alle Personen, die in den Bereichen Musik, Theater oder Literatur tätig sind. Das oxyd soll ein Ort sein, wo sich Menschen begegnen und sich inspirieren lassen. Mit dem Format «Kreissaal» wagt der Verein zudem gleich selbst ein Experiment im 2020: Er bietet ein Jahr lang eine Try-out-Bühne an, um Ideen weiterzuentwickeln und zu verwirklichen. «Scheitern ist erlaubt, Neues und Unerprobtes soll ausprobiert werden – denn genau darin steckt Potential für Innovatives!», heisst es im Projektbeschrieb. Die Idee sei es, transdisziplinären Projekten und experimentellen Formaten eine Plattform zu bieten, via Webseite kann man sich dafür bewerben.

 

Mit Vorschlaghammer und ...

Welch Potential der neue Ort mit sich bringt, deutet sich schon im September an. In kürzester Zeit hat Eve Hübscher zusammen mit Stefanie Frey und Peter Grüter ein Konzept für ein Kunstfestival ausgearbeitet, das es in dieser Form in Winterthur bisher noch nicht gab. 70 Künstler*innen sind bei der sich wöchentlich wandelnden Ausstellung involviert. Die erste Gruppe mit 16 Kunstschaffenden feiert am 13. September Vernissage. Die darauffolgenden Gruppen reagieren dann auf die ausgestellten Werke. Was entsteht daraus? «Hoffentlich eine Art lebendiges-Gesamtkunstwerk, welches den Raum, die Kunstschaffenden, die Besuchenden, die Geschichte des Ortes, die Wichtigkeit einer solcher Plattformen miteinschliesst, vermischt, vermengt, auf den Kopf stellt und mit neuen Ideen wieder ausspuckt», sagt Eve Hübscher mit einem Augenzwinkern. Wo viele nur Schutt sehen, verstecken sich für das Kuratoren-Team des Kunstfestivals allerlei Perlen, die es mit der Pinzette herauszupicken gilt. Der Untertitel des Kunstfestivals lautet deshalb auch «Mit Vorschlaghammer und Pinzette» und dient als Motto für das Rahmenprogramm.

 

... und Pinzette

Tatsächlich scheppert, poltert und knallt es an all den Freitag- und Samstagabenden. Zum Beispiel wenn die Wände am Eröffnungsabend spielen – nicht diejenigen, die abgerissen werden, sondern die Band. Oder wenn Musiker Nico Feer sich mit einem Blechfass auf musikalische Erkundungen begibt. Mit Butchers of Lassie, Frida Stroom, Giuma, None of Them, Playmob.il, Rolf Bosshard, The Nozes, Stefanie Stauffacher oder Bruno Spoerri und Roger Girod gibt es noch mehr spannende Musik zu entdecken. Zwischen all dem Lärm erklingen die leisen Töne umso schöner, hat man sie erst einmal entdeckt. Da ist zum Beispiel «das Kino der Attraktionen – lustige Erklärstunde»: Gäste treten als spontane Filmerklärer*innen auf und vertonten – wie der Name schon sagt – Stummfilme. An manchen Abenden sitzt die Slampoetin und Radiomacherin Livia Kozma alias Madame Cosmique als Zuhörerin in einer Box und wartet auf Besucher*innen sowie deren Geschichten, um im Gegenzug eine persönliche Playlist zusammenzustellen. Geplant ist auch ein Kulinarikdinner mit dem Improtheater-Duo Badumts.

 

Viele der Projekte sind interaktiv – aber nicht immer interagieren sie mit den Besucher*innen. An eine «Bildbetrachtung 2.0» wagt sich zum Beispiel Julia Toggenburger: Sie interessiert die Verflechtung von geschriebenem Wort und Kunst. Als «das Schaffen aufgrund etwas Geschaffenem, etwas kreieren, nicht auf Basis der eigenen Gedankenwelt, sondern eigentlich auf jener dessen, was aus dem Kopf und der Hand eines anderen Menschen entstanden ist» beschreibt sie ihr Vorhaben. Kurz gesagt: Julia Toggenburger schreibt Kunst. Das oxyd ist für die Musikerin, Radiomacherin und Literatin jetzt schon Ort der Inspiration: Denn die «Bildbetrachtung 2.0» ist nicht das einzige Projekt, dass sie am Kunstfestival erstmals umsetzt: «Beethoven/Craft» heisst das zweite, bei dem sie sich an eine musikalische Vertonung ihrer Lyrik wagt. Dabei liest Julia Toggenburger aus ihren «Tagebüchern der Farben», die alle zwei Monate im Coucou erscheinen. David Müller macht dazu Sounds, Musik und Ton.

 

Ausserdem erhält das poetographische Projekt «Winterthur» im oxyd eine Bühne: Die Eydus – kurze Gedichte à 5-7-5 Silben über zentrale sowie periphere Orte, die von Winterthurer*innen eingeschickt und alle zwei Monate im Coucou abgedruckt werden – sind nicht nur während vier Wochen ausgestellt, sondern auch – vertont von Vorleser*innen und Soundbastler*innen – als Audio-Installation erlebbar. Am Freitag, 4. Oktober schwärmt zudem eine Schar Poetograph*innen aus und verkörpert in einer Performance das Gemurmel der Stadt Winterthur.

 

Während im Juli beim Abbruch der ersten Wände die Projekte erst skizzenhaft angedacht waren, haben sie im August konkrete Form angenommen und wurden seither laufend erweitert, ergänzt und erprobt. Jedes der geplanten Experimente hier vorzustellen, wäre Irrsinn, weil dafür viel zu wenig Platz ist! Und vermutlich liegt bis zur Eröffnung am 13. September neuer Schutt im oxyd, aus dem die drei Kurator*innen die schönsten Steinchen herausgepickt und in ihr buntes Programm-Mosaik integriert haben.

 

 

oxyd Kunstfestival

Vom 13. September bis 6. Oktober

Freitags und samstags, 17 bis 01:30 Uhr

Sonntags, 14 bis 18 Uhr

Eintritt: Kollekte

Ausser am 27.9. (Kulinarikdinner): CHF 95

und am 28.9. (Kulturnacht): CHF 12

oxyd Kunsträume

Wieshofstrasse 8

www.oxydart.ch

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