Love me tinder

Dating-Apps wie Tinder und Blinq ziehen immer grössere Kreise, auch in Winterthur. Was steckt dahinter? Vier Eulachstädter berichten.

«Love me tender, love me sweet, never let me go», hauchte Elvis Presley 1956 ins Mikrofon und die Welt lag ihm zu Füssen. Doch die Zeit der singenden Barden scheint vorbei. Zumindest wenns darum geht, das digitale Herz zu erobern, braucht es kein Ständchen mehr: Auf ein Herz in einer App auf deinem Smartphone klicken, hoffen, dass der oder die andere das auch bei dir macht, sich treffen, Liebe machen, Liebe finden. Easy.

So zumindest suggeriert es das Dating-App Tinder. «Any swipe can change your life», heisst es im Werbespruch – eine Versprechung der Unvorhersehbarkeit, die Erfolg bringt: Über 600 Millionen Nutzerinnen und Nutzer sind registriert. Über das Facebook-Profil anmelden, ein paar seiner Bilder auswählen, den Umkreis der Suche bestimmen und los geht’s. Auf deiner App erscheint der erste Vorschlag, ausgewählt durch einen Algorithmus. Wenn dir das Gesicht oder was auch immer gefällt, klickst du auf das unten erscheinende Herz, sonst auf das Kreuz und gehst zum nächsten Gesicht. «Swipen», nennt sich das. Wenn nun jemandem dein Gesicht gefällt, habt ihr einen «match» und das App verbindet euch. Ähnlich funktioniert auch «Blinq», welches insbesondere im Raum Zürich neben Tinder ebenfalls beliebt ist und von Schweizern entwickelt wurde.

Viele haben sich schon mit dem «Phänomen befasst»: Es ist Thema beim Feierabend-Bier, Statistiker befassen sich mit dem Algorithmus, Psychologen sprechen über  allfällige Veränderungen von Beziehungsverhalten, Gender-Forscher debattieren über Sexismus, Journalisten oder solche, welche es gerne wären, «toppen» sich in «investigativen Reportagen» oder «selbstlosen Selbstversuchen» und die Youtube-Community produziert munter Anwendungstipps ­– von «What NOT to say on Tinder» bis zu «How to Fuck Girls on Tinder.»

Beziehung und Spass

Was aber wurde wirklich neu mit den Dating-Apps? Ändert sich etwas? Wie werden die neuen Möglichkeiten in Winterthur genutzt? Wie funktioniert das in einer Kleinstadt? Wir haben nachgefragt. (Alle folgenden Namen wurden geändert.*)

Zwei Blind-Dates hatte der Winterthurer Kulturschaffende Jonas* mittels Tinder. Mit dem zweiten fand seine heutige Freundin. Darauf aus war er nicht wirklich: «Ich habe mit Tinder angefangen, um Spass zu haben, wollte einfach mal schauen, was dabei so rauskommt.» In Winterthur war ihm allerdings zu wenig los: Wenige neue Kontakte seien hier jeweils dazu gekommen. Deshalb hat er den Umkreis der Suche grösser eingestellt – und wurde in Basel fündig: Mehrere Monate schrieb er mit einer Baslerin hin und her, dann traf er sie und sie kamen zusammen. Das war vor rund einem Jahr. Er habe kein Problem damit, die Entstehungsgeschichte ihrer Beziehung zu erzählen. Aus der obligaten «Wie habt ihr euch kennenlernt?»-Frage des Kollegenkreises hätten sie sich einen Spass gemacht und Stories ausgedacht, « so abstrus, dass jedem klar war, dass sie frei erfunden sind.» Komische Reaktionen auf die richtige Version gab es bei seinen Freunden keine.

Jonas Tinder-Zeit gehört der Vergangenheit an wie auch diejenige von Caroline* – dort allerdings aus anderen Gründen: «Die Sprüche, die einem dabei zufliegen, waren mir mit der Zeit einfach zu blöd», erzählt sie. Zu primitiv, zu plump, zu fixiert auf «eine schnelle Nummer.» Zwar würden sich auf Tinder die unterschiedlichsten Männer tummeln, solche mit mehr Substanz und solche mit weniger. «Mit der Zeit dominieren aber leider die mit weniger.» Caroline hatte unzählige Konversationen und einige Dates, sowohl in Winterthur als auch ausserhalb. Darunter waren zwei interessantere. Nicht alles sei schlecht bei Tinder, sagt die KV-Absolventin, aber es gäbe eben auch genügend Typen darauf, die die ganze Angelegenheit nervig machten. «Und die ‹Guten›, so meine Erfahrung, findet man darunter nicht schneller als im analogen Leben.»

Das denkt auch Kathrin*, hat aber ein positiveres Verhältnis zu den Dating-Apps. Die Studentin nutzt Tinder und Blinq sporadisch und unterschiedlich. Sex spiele dabei natürlich auch eine Rolle: «Wenn du einen Match hast, ihr euch sympathisch seid und beide gerade Lust haben, warum auch nicht?» Medien würden jedoch suggerieren, dass hier nun eine Hormon-gesteuerte junge Generation mittels App jederzeit und überall in fremde Betten gelockt werde. «Das ist mit Tinder nicht mehr oder weniger als sonst der Fall, höchstens vielleicht von Beginn an ehrlicher.» Es gehe nicht nur um Sex, oft sei auch einfach ein Kaffee und ein gutes Gespräch das Resultat. «Und falls darunter mal jemand ist mit Potential, dann umso besser.» Ausschliessen würde sie es jedenfalls nicht.

«Ich hatte letzthin mit einer Kollegin eine längere Konversation über Tinder», sagt Fabian*. «Sie sagte zu mir: Die Frau, welche vielleicht fürs Leben sein könnte, findest du nicht auf Tinder. Und ich tendiere dazu, ihr Recht zu geben.» Fabian ist mit den Dating-Apps aber auch nicht auf der Suche nach der grossen Liebe. Der Student nutzt seit eineinhalb Jahren Blinq und Tinder «mal mehr, mal weniger.» Er probiere einfach aus, gehe die ganze Sache spontan und ohne fixes Ziel an. Das typische Tinder-Date? «Du machst in einer Bar ab, um etwas zu trinken und schaust, was sich daraus ergibt.» Manchmal sei das Sex, manchmal nichts, manchmal unerwartete Geschichten: «Ich hatte mal ein Date und danach drei Wochen lang mit ihr an der Bachelor-Arbeit gearbeitet.»

Keine Revolution

Beziehungs-Finder, Hormon-Hub, Chat-Raum – Apps wie Tinder ausschliesslich als neue Hotline für schnellen Sex zu definieren, wäre zu einfach. Das können sie auch sein, doch scheint es so, als ob die Mechanismen der Gesellschaft sich auch auf den digitalen Plattformen manifestieren. «Leute wie auch Absichten sind sehr verschieden», sagt Jonas. Und auch Caroline, Kathrin und Fabian wollen und würden sich weder auf einen bestimmten, allgemeinen «Tinder-Typus» noch auf einen «Tinder-Habitus» festlegen. Auch hier gibt es diejenigen, die einfach eine Beziehung suchen. Auch hier diejenigen, die einfach Gesellschaft wollen. Oder einfach Spass.

Eine beziehungstechnische Revolution bedeuten Tinder & Co nicht. Die Oberflächlichkeit der Entscheidungsfindung– man entscheidet in erster Linie aufgrund der Bilder – ist nichts Neues. Denn wer behauptet, der erste und entscheidende Eindruck im sonstigen Leben sei nicht oberflächlich, lügt. Der Unterschied ist lediglich, dass der Entscheid dort subtil gefällt wird, während das Auswahlverfahren bei Tinder entlarvend ist. Ich bin geneigt zu sagen, dass Tinder nicht nur in dieser Hinsicht «ehrlicher» ist als so manche Konversation, beispielsweise an einer WG-Party. «Ehrlich» im dem Sinne, dass sich jede und jeder dabei outet. Als «Single», als «suchend» und in einem weiteren Schritt als «potentiell interessiert.» Dieser Umstand führt auch zum Erfolgsrezept der Dating-Apps: Kontakt aufnehmen wird einfacher. «Du lernst enorm schnell enorm viele Leute kennen», sagt Fabian. «Es ist einfach, mit unterschiedlichsten Leuten in Kontakt zu kommen», sagt auch Jonas. «Bei allem, was danach kommt, bleiben die Funktionalismen immer noch dieselben.»

Diese «Ehrlichkeit», welche die Kontaktaufnahme erleichtert, führt jedoch in einer kleineren Stadt wie Winterthur unweigerlich auch dazu, dass man auf Tinder oder Blinq über Personen stolpert, welche man auch sonst kennt. Ein Problem? «Nein. Meistens hab ich Leute, welche ich kenne, ‹geliked›, um zu schauen, ob sie dasselbe tun, und dann zum Spass ein wenig gechattet», sagt Jonas. Zudem sei die andere Person ja ebenfalls auf Tinder, darum müsse es einem auch nicht peinlich sein. «Klar triffst du auf bekannte Gesichter, aber gleichzeitig merkst du auch, dass da noch viele andere in deiner Stadt wohnen», sagt auch Kathrin. Fabian wiederum, der mittlerweile in Zürich lebt, hat Tinder-Dates in Winterthur eher gemieden. «Ich hab keine Lust, dass die Leute danach darüber reden. So à la ‹Hast du gesehen, der mit der.›» Ein Phänomen, welches jedoch auch ohne Tinder und Blinq in dieser Stadt allzu bekannt ist.

Elvis kann also aufatmen. Die «Liebesmusik» ist nicht verschwunden, sie wird nur mit anderen Instrumenten gespielt, während das vibrierende Smartphone zu dir spricht: «Love me, Tinder». Eine Garantie allerdings ist das noch lange nicht.

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