Grosse Beharrlichkeit und ein bisschen Wehmut

Grosse Beharrlichkeit und ein bisschen Wehmut

Ruth Loosli bezeichnet sich selbst als Spätzünderin. Die 61-jährige Bernerin hat sich in der Winterthurer Kulturszene als Literatin einen Namen gemacht – nachdem sie 20 Jahre lang «für die Schublade» geschrieben hat. Mit «Mojas Stimmen» erscheint in diesen Tagen ihr erster Roman.

«Ich promote lieber andere als mich selbst», sagt Ruth Loosli. Passend zu diesem Motto beginnt die Lyrikerin die Tour durch ihre Wohnung, in der sie gemeinsam mit ihrem Partner lebt, damit, dass sie ihre kleine Kunstsammlung präsentiert. Diese erstreckt sich vom Schlafzimmer bis in die lichtdurchflutete Stube, von der aus man auf über die Stadt und bis hin zum Sonnenberg sieht. Zu jedem Kunstwerk hat sie etwas zu erzählen; von der blauen Landschaft der Künstlerin Sayumi über das gedruckte Kleeblatt der Winterthurerin Theres Liechti, dem Objekt von Susan Schoch bis zur zwei Meter hohen Skulptur des Künstlers Erwin Schatzmann, die an eine überdimensionale Banane mit indischem Gesicht erinnert. Man merkt, dass ihr die bildende Kunst wichtig ist. Die Bilder geben ihr Inspiration, sagt Ruth. Das Interesse für die bildende Kunst kommt auch in ihrer konkreten Poesie zum Ausdruck, wenn sie Worte zu Bildern gestaltet. «Hätte ich mehr Geld und Platz gehabt, wäre ich wohl Kunstsammlerin geworden», sagt sie.


Doch wofür ihr Herz noch mehr brennt – schon seit Ruth 12 Jahre alt ist –, das sind die Sprache und das Schreiben. Geschrieben habe sie schon immer, doch sie sei scheu gewesen. «Ich hatte nicht von Haus aus das nötige Selbstvertrauen», sagt sie über sich selbst als junge Frau. An den Solothurner Literaturtagen war sie bereits als 20-Jährige Gast – doch sie blieb immer im Hintergrund. «Ich habe fasziniert zugeschaut und zugehört, doch ich habe mich nie getraut zu sagen: Ich bin auch da!» So absolvierte sie erst eine Ausbildung zur Primarlehrerin, arbeitete viele Jahre auf dem Beruf und schrieb nebenbei als freie Autorin für die Berner Zeitung, während sie privat nie aufhörte, Geschichten und Gedichte zu schreiben. Irgendwann kamen Kinder und Familienarbeit dazu, und die Zeit und Kraft seien schlichtweg nicht da gewesen, um einen Verlag zu suchen und ihre Leidenschaft zum Beruf werden zu lassen. «Ich bin eine Spätzünderin», sagt die dreifache Mutter.


Als sie 2002 aus dem Berner Seeland nach Winterthur kam, begann die damals 43-Jährige, sich mit anderen Kunstschaffenden zu vernetzen. So besuchte Ruth zu dieser Zeit eine Lesung der Literarischen Vereinigung Winterthur und erzählte ihrer Sitznachbarin voller Begeisterung, was sie gerade lese. Diese erwiderte: «Sie müssen in den Vorstand!» Ruth Loosli ist seither eines von zehn Mitgliedern. 2009 erschien ihr erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch». Er war die erste von fünf Publikationen und ist eines von vielen Beispielen für ihre spielerische Poesie. Diese ist bewusst prägnant aufs Minimum reduziert und schafft es doch, indirekt komplexe Themen zur Weltlage anzusprechen.


Die Zeit des Versteckens sei vorbei. «Ich habe 20 Jahre lang für die Schublade geschrieben, das will ich nicht mehr», sagt die Literatin. «Ich bin jetzt 61 Jahre alt und entweder kann ich meine Arbeit zeigen oder ich sterbe irgendwann, ohne dass meine Texte je gelesen werden», sagt sie und lacht. Ein bisschen Wehmut scheint dennoch mitzuschwingen. Sie bedauere es durchaus, sich nicht früher gezeigt zu haben. «Ich habe Ambitionen, meine Arbeit bekannter zu machen», sagt Ruth. «Wenn dich niemand sieht, wirst du auch zu keinen Festivals eingeladen.» Die erste persönliche Einladung zu den Solothurner Literaturtagen 2020 oder die vom Coucou verliehene Auszeichnung der Goldenen Feder in der Kategorie der «Schreibenden Gans» im Jahr 2018 – solche Zeichen der Wertschätzung täten ihr «mega gut». «Ich habe gelernt, unermüdlich zu sein und so mehr Selbstvertrauen aufgebaut.»


So wichtig ihr der Austausch mit anderen Kunstschaffenden auch sei, beim Schreiben brauche die Literatin absolute Ruhe. «Sonst ist dieses Eigenbrötlerische nicht meine Art, aber das Schaffen in der Stille ist mir sehr wichtig, um mich konzentrieren und kreativ sein zu können.» Zuerst müsse sie jedoch in den «Flow» kommen, meint die Bernerin. Wenn sie merke, «da kommt etwas», dann gehe sie Zugfahren oder Spazieren und spricht die aufkeimenden Ideen als Sprachmemo auf ihr Smartphone. Oder sie wird inspiriert von Begegnungen im Alltag. So war es mit dem von ihr kreierten Charakter «Wila» – beziehungsweise «Ouila», der französischen Version. Ein Ortsschild der gleichnamigen Tösstaler Gemeinde brachte sie auf die Idee, und 2016 erschien der zweisprachige Band Wila/Ouila mit der französischen Übersetzung von Camille Luscher. Man merkt, auf dieses Buch ist Ruth besonders stolz. «Wila ist ein Dorf – und wie es bei Dörfern so ist, kann ihr Charakter alle Gestalten annehmen, ob gross/klein oder dick/dünn. An dieser Idee habe ich immer noch Freude.» Rund sechzig Kurzgeschichten füllen die 120 Seiten des Bandes. Sie heissen «Wila und die Kirche», «Wila und die Verwaltung» oder «Wila als Therapeutin». Auch hier: leichte Anekdoten mit Witz und Sprachgewandtheit. Dazwischen verbergen sich – je nach Interpretation – ein Aufruf zur Toleranz unter den Religionen, Gedanken zum Prozess der Selbstfindung oder eine leise Kritik an der Schweizer Bürokratie. «Indirekt», sagt Ruth, «spielen politische, gesellschaftliche und andere Themen, die mich aktuell beschäftigen, immer mit in meinen Werken.» Auf einem direkteren Weg spricht sie solche Themen auch in Kolumnen an – etwa auf Ron Orp, wo sie lange als «Madame de Ouila» agierte. Die Resonanz sei zu klein gewesen, nun nennt sie sich «Ruth von Seen», die Beiträge aber kommen weiterhin regelmässig. So zum Frauentag, wo sie zu mehr Engagement aufruft, oder einfach zu Beobachtungen in der Stadt, die sie auf regelmässigen Streifzügen mache.


Im April präsentierte die Schriftstellerin ihren ersten Roman «Mojas Stimmen». Die intensive Thematik – psychische Krankheiten, im Kontext einer Beziehung zwischen Mutter und Tochter – habe eine grössere Geschichte verlangt, daher wich Loosli auch von der für sie typischen Form der Kurzgeschichte ab. «Die Psyche des Menschen beschäftigt und fasziniert mich schon lange, und ich habe viel dazu gelesen und recherchiert – am Meisten bei mir selbst.» Auch hier sei sie ambitioniert: Das Buch solle gesehen werden, damit die Thematik vermehrt diskutiert werde. So sei es ein Glück, vom Literaturhaus Zürich eingeladen zu sein, um die Neuerscheinung vorzustellen. Was danach passieren werde, stehe noch in den Sternen; viele Festivals seien schon auf 2022 verschoben worden. «Ich weiss nicht, wie es weitergehen wird, aber lieber ist es mal stressig, als dass ich zu wenig vorhabe.» Durch die Pandemie tendiere sie jedoch zuweilen dazu, in eine Resignation zu verfallen. «Es gibt so viele Künstler*innen, die zurzeit ihre Arbeiten nicht zeigen können – wieso sollte gerade ich diese Chance bekommen?»

 

Maria Keller ist Autorin beim Coucou und nimmt sich jetzt vor, auch wieder mehr für sich zu schreiben.

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