«Als junge Frau wusste ich oft nicht, was ich eigentlich machen möchte», erzählt Constanze Schade. Heute sei das immer noch so. Sie könne sich nicht auf eine Sache festlegen, aber das störe sie nicht mehr. Heute macht sie vor allem zwei Dinge: Sie koordiniert die Solinetz-Deutschkurse für geflüchtete Menschen und studiert mit 59 Jahren Filmwissenschaft an der Universität Zürich.
Sie sitzt an einem Tisch im hinteren Teil des Café Neumarkt, trinkt einen Cappuccino und liest in einem Buch. Neben ihr stapeln sich mehrere Taschen, aus einer blitzen Stricknadeln und Wolle hervor. «Ich bereite mich für meine letzte mündliche Prüfung vor», erzählt sie zu Beginn. Diesen Sommer wird sie nach 15 Jahren Studium ihren Master in Filmwissenschaft im Rahmen des «Netzwerk Cinema CH» abschliessen. Film, eine Kunstform, die ihr gefällt, weil es viele einzelne Teile braucht, die sich zum Ganzen fügen: Nur wenn Drehbuch, Technik und Schauspiel zusammenpassen, wird das Ergebnis sehenswert. Besonders fasziniert Constanze allerdings die Kameraarbeit. Für das Kino Cameo kuratiert die hochgewachsene Frau Reprise-Reihen und wählt häufig Filme, die man sonst nirgends zu Gesicht bekommt. Zum Beispiel organisierte sie mit einer Kollegin, parallel zur Plastilin-Ausstellung im Gewerbemuseum, eine Reihe mit Animationsfilmen aus Plastilin. Die Filmemacher formen dabei jedes einzelne Bild aus Knetmasse. «Wahnsinnstypen», findet Constanze.
In ein Fachgebiet eintauchen wollte Constanze eigentlich immer. Nach dem Gymnasium in Konstanz machte sie eine Ausbildung zur Sekundarlehrerin, einen Beruf, den sie 34 Jahre lang ausübte. Häufig habe ihr die fachliche Tiefe gefehlt. Deshalb hat sie nebenbei viel gelesen und sich das Wissen diszipliniert selbst angeeignet. Sie brauchte den Anstoss ihres Bruders, der sagte: «Jetzt geh studieren!» So startete die Mutter zweier Söhne mit 44 Jahren berufsbegleitend das Lizenziat in Englisch und Film im Nebenfach. Constanze spricht ruhig und unaufdringlich, und wenn sie lacht, wirkt sie fast schüchtern. Die hochgesteckten blond-grauen Haare wirken dagegen eher streng. Anfang Jahr zog sie mit ihrem Mann von Winterthur in ein Haus in Romanshorn. Sie renovierten es selbst und legten einen grossen Garten für die Selbstversorgung an. Eine der drei Wohnungen im Haus bewohnt ihr 86-jähriger Vater.
Ihr Vater ist als Teenager nach dem Zweiten Weltkrieg aus seiner Heimat Schlesien vertrieben worden, lebte erst in verschiedenen deutschen Städten und zog schliesslich mit Constanzes Mutter in die Schweiz. «Sein Schicksal macht für mich vieles verständlich: den Verlust von Heimat und den lebenslangen Prozess der Verarbeitung», erzählt sie und deutet damit ihre Arbeit für das Solinetz an. Constanze organisiert zusammen mit einer Kollegin Deutschkurse für Flüchtlinge, welche an vier Halbtagen pro Woche stattfinden. Jeder Kurs wird von einem Team aus Freiwilligen durchgeführt, wobei jeweils eine ausgebildete Lehrperson die Leitung inne hat. Constanze führt zwei solcher Teams und steht an zwei Vor- und Nachmittagen pro Woche im Schulzimmer. Sie erlebt dort viele schwierige Schicksale mit. Dabei betont sie: «Ich frage meine Schülerinnen und Schüler nie aus.» Manchmal bleibe jemand nach dem Unterricht länger und erzähle ihr seine oder ihre Erfahrungen aus eigener Initiative. In schwierigen Fällen vermittle sie die Person an Fachleute, Tandem-Partner oder Schülerinnen oder Schüler mit ähnlichen Erlebnissen weiter. «Man darf die Geschichten nicht interpretieren, das ist heikel.» Und natürlich, diese Geschichten können für sie belastend sein. Im Unterricht sprechen sie über alltägliche Themen wie das Wetter, und sie erfahre viel über die Kulturen und Länder. Selbst ist Constanze nie weit gereist, die Oberflächlichkeit des Tourismus störe sie. Nun seien die Kurse ihre ökologische Form des Reisens.
Constanze geht den pragmatischen Weg, um etwas zur Lösung dieser komplexen Weltproblematik beizusteuern. Man dürfe nicht naiv sein. «Ich möchte unseren Kursteilnehmenden neue Möglichkeiten, ein Mittel für Selbständigkeit und Sinn geben», erklärt sie und fügt bestimmt an: «Niemand soll dazu verdammt sein, ein Leben lang Hilfsjobs zu erledigen.» Sie wünscht sich eine Zukunft für ihre Schülerinnen und Schüler. Das sagt sie nicht einfach so, sondern hat umsetzbare Ideen. So vermittelt Constanze ihre Kursteilnehmenden an Bekannte mit Handwerksbetrieben weiter. Natürlich dürften diese mit einer Aufenthaltsbewilligung N nicht arbeiten, es sei aber der ideale Einstieg, um später eine Lehre machen zu können und hier Fuss zu fassen. «Es wäre toll, wenn das jemand professionell aufziehen könnte», findet sie.
Wenn sie über ihre Arbeit spricht, betont sie immer wieder, wie wichtig die Mitarbeit der 60 freiwilligen Lehrpersonen sei. Wie ein Film besteht die Arbeit des Solinetzes aus vielen einzelnen Teilen. So passen die beiden Dinge in Constanzes Leben eigentlich gut zusammen