In der Altbauwohnung gegenüber des Technikums riecht es nach frisch aufgebrühtem Tee. Sorgfältig zusammengewürfelte Möbel, gemütliche Decken und Kissen, farbige Teppiche, dazu liebevolle Dekorationen und Erinnerungsstücke, wo das Auge hinreicht. Neben der Staffelei liegen einige Farbflaschen. Mehrere tausend Schallplatten türmen sich in einem Regal, auf dem Plattenspieler taucht eine davon das Zuhause in Hard-Rock-Töne. Und natürlich sind da Bilder, jeden Zentimeter der niedrigen Räume bedecken sie. Mittendrin deren Schöpfer, der mehr noch als seine Wohnung wie ein bohèmes Gesamtkunstwerk anmutet. Harold Cueva Vasquez strahlt Ruhe und Zufriedenheit aus, und wenn er spricht, dann besonnen und mit einem melodiösen Akzent. Ein Hinweis auf seine Herkunft.
Harold wuchs in einem kleinen Dorf in den Anden auf, weitab von grösserer Zivilisation und ohne Elektrizität. «Unsere Kultur lebte mit und von der Natur, von der Spiritualität, vom Zusammenhalt. Fantasie zu haben, das fiel mir damals sehr einfach.» Er lächelt, wenn er von seiner Kindheit erzählt. Später aber sollte das urbane Leben seine Kreativität für lange Zeit einsperren. Die Familie zieht nach Trujillo, die drittgrösste Stadt Perus. Eine grosse Umstellung: Harold beschreibt die Zeit in der öffentlichen Schule als Gefängnis. Andersartigkeit führte hier auf schnellstem Wege zum Ausschluss. Er verabschiedet sich von seiner Naturverbundenheit und von spirituellen Einflüssen und interessiert sich fortan mehr für den eben erschienenen Nintendo als für Bildung, Religion oder Kunst. Irgendwann hört der Jugendliche ganz auf, in die Schule zu gehen und wird zum Rebell.
Es sind die Artworks auf den CDs seiner Jugendidole Iron Maiden, die ihn schliesslich zur Kunst zurückbringen: Inspiriert von den Covers fängt er an, Teufel und Totenköpfe zu zeichnen. Sein Vater erkennt das künstlerische Potential seines Sohnes und bringt ihn schliesslich dazu, die einzige Kunstschule in der Stadt zu besuchen. «Dort habe ich meine richtige Familie kennengelernt: Freigeister, Visionäre, Individualisten. Im Gegensatz zur alten Schule waren die Leute da pur, echt – und verrückt. Viele nahmen Drogen, es gab keine Regeln, nur Freiheit und Kunst. Das ist für mich!» erkannte er. Als sein Vater stirbt und eine Bildungsreform standardisierte Prüfungsverfahren bringt, bricht er die Kunstschule trotzdem ab. Für Harold ist das nicht schlimm. «Ich habe mich nie für Theorie interessiert. Kunst kann man nicht lernen. Klar, man braucht ein paar Techniken, aber Fantasie ist etwas Persönliches.»
Eine unglaubliche Fantasie ist nötig, um Bilder zu malen, wie Harold sie malt. Die Werke strotzen vor kleinen Details und sind surreal lebendig. Stundenlang kann man sie betrachten und sich mehr und mehr in ihnen verlieren. Seinem Stil hat Harold einen eigenen Namen gegeben: Mikromakroscopolismus. Er beschreibt das Zusammenspiel des Mikro- und Makrouniversums, die beide unendlich sind und gleichzeitig untrennbar existieren. Dieses Wechselspiel sieht der Künstler in allem. «Wie Zellen kleine Universen in unserem Körper sind und unsere Körper Universen in einem nächstgrösseren Organismus. So geht es immer weiter.»
Vor neun Jahren kam Harold der Liebe wegen in die Schweiz, seit drei Jahren lebt er nun in Winterthur. «Ich kann mich noch gut erinnern, wie es war, als ich hier ankam. Es war Winter. Eis, Schnee – so etwas habe ich noch nie erlebt. Mittlerweile nervt mich die Kälte aber auch. Ich hasse es, so viel anzuziehen.» Er lacht verschmitzt. Sein Vater habe immer gesagt, Künstler müssten nach Paris. Aber Harold will hier bleiben. «Ich liebe die Leute, die Atmosphäre. Ich kenne zwar nicht die ganze Schweiz, aber Winterthur ist genau die Stadt, die ich brauche.»