«Ich würde auch noch im Rollstuhl tanzen.» Grenzen oder Einschränkungen gibt es für Simon Wehrli nicht, sondern nur Möglichkeiten, um andere, noch im Dunkeln schlummernde Fähigkeiten zu entdecken. Denn es sei immer eine Frage, wie man die Dinge und die Welt sehe: «Schranken können auch Chancen sein.» Sie zwingen einen, andere Wege einzuschlagen. Sie sind Türen zur Entfaltung. So hat er auch keine Angst vor dem Altern. Das, obwohl seine Arbeit sehr eng an seinen Körper gebunden ist. Eigentlich freue er sich sogar darauf. «Ältere Menschen tanzen anders, haben einen anderen Ausdruck, sind gesetzter, und das finde ich schön.»
Gibt es denn keine Wünsche? Meterhohe Spagatsprünge beispielsweise oder wie die Ballettlegende Baryshnikov Drehung an Drehung zu reihen? Nach Unerreichbarem sucht Simon nicht: «die Virtuosität hat keine Bedeutung für mich». Vielmehr ist es die Unabhängigkeit, die ihm wichtig ist. Sie ist für ihn eine Selbstverständlichkeit, die er nicht aufgeben will und kann. Um dies zu gewährleisten, wählt sich Simon die Aufträge sorgfältig aus: «Ich nehme nur Aufträge entgegen, die mir entsprechen.»
In Simon steckt ein Bewegungsdrang, der ihn zum Tanzen zwingt, aber auch ein Kommunikationsdrang, der ihn auf die Bühne bringt. Seine Worte sind Bewegungen, seine Stücke ganze Geschichten. Und das zeigte sich früh: Als Dreijähriger tanzte Simon in einem Rhythmikkurs, und zwar bereits losgelöst von konventionellen Bewegungen. Nebenbei bastelte er sich zuhause Trommeln aus allen möglichen Gegenständen: Dosen, Bechern, Büchsen. Bis er herausfand, dass es ein solches Instrument bereits gibt – das Schlagzeug. Für die Familie spielte und tanzte er vor. Seitdem wird sein Leben, mal mehr, mal weniger, von Tanz und Musik begleitet. Zum rhythmischen Tanz gesellte sich der Jazztanz – zum Schlagzeug die Geige. Später kamen noch weitere Tanzformen dazu. Als Simon ins Gymnasium eintrat, musste er das eine und andere Hobby auf Eis legen. Warum denn überhaupt ins Gymnasium? Weil er schon immer eine Band wollte und seine Mutter sagte: «Wenn du dann im Gymi bist.»
Plan B für die Zukunft war ein Beruf im sozialen Bereich. Dazu kam es aber nicht, denn: «Ich mache so ziemlich das, was ich mir immer vorgestellt und gewünscht habe.» Bisher lief also alles wie geschmiert? Nicht ganz alles. Da war das eine oder andere, das nicht geklappt hat, die Jazzschule zum Beispiel. «Irgendwie war das nicht meine Welt, ich kam mir fehl am Platz vor.» Dies sieht Simon jedoch nicht als Niederlage, sondern als Bereicherung. Denn dadurch entdeckte er das Theater. Er entschied sich für die Mimenschule Ilg in Zürich, die ihn aufnahm, kurz danach aber schloss. Darauf bewarb er sich an der renommierten Theaterschule Dimitri in Verscio, gegründet vom Clown Dimitri. Die nahm ihn ebenfalls auf. Er schätzte die Schule, sah sie als Gefäss, um unbekannte Talente aufzuspüren. Er jedoch wollte wieder tanzen.
Nach seinem Bachelorstudium in Verscio ging er nach London zu Trinity Laban, einer Tanzschule. Seitdem tanzt Simon wieder. Innig. Jedoch nicht nur, denn seine Arbeit ist vielseitig wie auch vielschichtig. Tanz, Theater, Musik, Poesie, alles fliesst mit ein, wird vereint und entfaltet sich zu einem Ganzen. Wandelt sich aber auch stetig. Die Veränderung scheint ein allgegenwärtiges Thema in seiner Arbeit wie in seinem Leben zu sein ‑ stetig im Wandel, stetig unterwegs. Als anstrengend sieht er es nicht – und Bahnfahrten als geschenkte Tage: «Dann kann ich unbeschwert Musik hören, einen Film schauen, schreiben, lesen...»
Simon wirkt, als lebe er sein Leben mit einer gewissen Leichtigkeit und sei rundum zufrieden ‑ einen Wunsch hat er dennoch. Jeder Körper sei eine Ansammlung von individuellen Möglichkeiten. «Ich möchte diese in alle mir möglichen Richtungen entdecken und ausweiten.» Und so arbeitet Simon stets an sich, wandelt und entfaltet sich, lässt Altes hinter sich und entdeckt Neues.