«Winterthur ist wie Ferien! Der Ort gibt mir das Gefühl weit weg zu sein», sagt Martina Hügi über die Stadt. Seit ein paar Jahren bewohnt sie zusammen mit ihrem Freund eine kleine Wohnung am Neumarkt. Die Einrichtung ist bescheiden; gleich beim Eingang steht ein Glasschrank mit Spirituosensammlung, die Lampe wurde eigenhändig mit Muffinförmchen verziert, das Fenster steht offen, Martina sitzt auf der Sofakante.
Sie ist klein und zierlich. Mit ihrem blonden langen Haar sieht sie nicht aus wie eine Frau, die freiwillig provokative Texte ins Mikrofon schmettert und sich über Hochprozentiges als Siegerprämie freut. Dessen ist sie sich bewusst: «Manchmal lacht das Publikum, weil ich auf der Bühne als Erstes das Mikro runterschrauben muss. Dann aber blicke ich in die Runde und lege los – ich will die fünf Minuten voll präsent sein!»
Ihre ersten Erfahrungen als Dichterin machte Martina am Lehrerseminar Kreuzlingen, später wagte sie den Schritt auf die offene Bühne und moderierte nebenbei auf Radio Lora einmal im Monat eine eigene Sendung. Da ihr aber zunehmend die unmittelbare Rückmeldung des Publikums fehlte, beschloss sie schliesslich an Poetry Slams teilzunehmen.
Nach zahlreichen Auftritten verfügt sie mittlerweile über viel Erfahrung – Routine ist ihr allerdings fremd: «Poetry Slam wird nie langweilig: Immer wieder gibt es neue Slammer, neue Texte, neues Publikum.» Bemerkenswert sei auch die freundschaftliche Haltung der Dichter untereinander, als «Slamily» fasst sie ihre Mittstreiter liebevoll zusammen.
Eine ihrer Kolleginnen ist die wohl bekannteste Slampoetin der Schweiz: Lara Stoll. Letztes Jahr gewannen die beiden an den Schweizer Meisterschaften den erstmals ausgetragenen Teamwettbewerb im Poetry Slam. «Lara ist eine grossartige Slammerin. Sie hat für den Slam der Schweiz wichtige Grundsteine gelegt.» Beide kommen ursprünglich aus dem Thurgau, waren in Winterthur Nachbarinnen. Der Dichterwettstreit ist ihre gemeinsame Leidenschaft. Konkurrentinnen sind sie nicht. «Jeder Slammer ist anders, jeder Text ist anders », sagt Martina.
Obwohl flink und knackig vorgetragen, sind Martinas Texte keine leichte Kost. «Ich suche das Risiko. Es geht mir darum aufzurütteln, es fasziniert mich Tabus zu brechen.» Doch es wäre falsch zu denken, Martina wolle schlicht provozieren. Sie möchte auch sich selbst herausfordern. «Wann immer ich auf die Bühne trete, springe ich über meinen eigenen Schatten. Ich finde es spannend, wie viel Überwindung es mich kostet, einen offensiven Text mit Überzeugung zu bringen.» Martina betont, dass die Zuschauer nicht nur Text, sondern auch Persönlichkeit wollen und die Slam Poetry-Kunst vor allem auch darin bestehe, authentisch zu sein.
So schreibt die Slammerin über die Widrigkeiten des Alltags, die Unbarmherzigkeit des Lebens, die inneren Kämpfe des Einzelnen, Ignoranz und Kaltblütigkeit – auch über den Tod. «Der Tod macht Angst» sagt sie, «darüber will man nicht reden. Zu wissen, dass das Leben endet, kann aber helfen das Leben zu geniessen, das Leben einfach zu leben und das ist mein Ziel: aus mir herauszukommen und etwas aus mir zu machen!»
Dass Martina Herausforderungen mag, beweist auch ihr voller Terminkalender. Nebst ihrer Arbeit als Primarlehrerin absolviert sie eine Weiterbildung zur Deutschlehrerin für fremdsprachige Kinder. Sie komponiert Klavierstücke, fotografiert oder spielt Tischtennis, spasseshalber im Stadtpark oder auch einmal siegreich an einem Turnier – überraschenderweise ohne zu trainieren –, wie sie sagt. Vielleicht ist es ja die Erfahrung im verbalen Schlagabtausch, die ihr auch beim Spiel mit dem Ball zugute kommt.
Martina Hügi liest am 20. März am Frauenslam in Zug und am 23. März am Poetry Slam Ravensburg (DE).