60 Kilo Sonnenschein

60 Kilo Sonnenschein

Letztes Jahr habe ich beinahe zwei Monate auf Island verbracht. Genauer gesagt im kleinen Fischerort Segulfjörður, im nördlichsten Fjord Islands, zur Zeit der Jahrhundertwende.

Mit blätternden Fingern, versunken in die Geschichte zwischen den Buchdeckeln. «60 Kilo Sonnenschein» entfaltet ein skurril anmutendes Szenario: Die Seglfirðinger haben noch nie etwas vom Hering gehalten, der sich im Wasser vor ihren Haustüren tummelt – nicht einmal als Köder ist er erlaubt – und verfüttern die «strohdummen Tiere» noch am ehesten ans Vieh, sammeln aber aus Hunger auf den Bergen Flechten und kochen daraus fragwürdig aussehende Flechtensuppe. Nicht nur Gestur, dem «Gast» im Hause verschiedener Ziehväter im Fjord, fällt die unverständliche Logik dahinter auf. Es wird die junge Generation sein, die den Heringboom und damit die Passage in die Moderne vorantreibt.

Der Roman erinnert in seiner Form und erzählerischen Ausuferung an isländische Sagas, kombiniert wie diese Prosa und Vers, verfügt über ein nicht enden wollendes Figurenarsenal und beginnt die Geschichte noch bevor die Hauptfigur überhaupt aufgetreten ist. Er trägt aber auch die Handschrift Hallgrímur Helgasons, der völlig unvermittelt bizarre Handlungsverläufe und Fiktionsbrüche einschiebt. Das erinnert mich immer wieder daran, dass auch ich nur lesender Gast im Fjord bin und ihn nach der letzten Seite verlassen muss.



«60 Kilo Sonnenschein» umfasst 576 Seiten und wiegt 772 Gramm.


Patrizia Huber ist Redaktorin von delirium – Zeitschrift gegen Literatur: www.delirium-magazin.ch

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