Haldengut war lange das einzige Winterthurer Bier – heute wird in der Stadt eine Fülle an Craft-Bieren gebraut. Das ist unter anderem einem Getränkeladen an der Steinberggasse und lokalen Bierenthusiast*innen zu verdanken. Zu Zeiten des Bierkartells wäre das alles nicht möglich gewesen.
Am südlichen Hang des Lindbergs, hinter dem Kantonsspital Winterthur, befindet sich heute ein aufgewertetes Wohnquartier für gut situierte Winterthurer*innen. Doch die vor über 150 Jahren errichteten roten Backsteingebäude, in deren Mitte noch immer ein Schornstein in die Höhe ragt, erinnern an vergangene Zeiten. Damals stapften statt der Bewohner*innen von Eigenheimen und der Kundschaft des Kleingewerbes Arbeiter*innen und breit gebaute Pferde über das Gelände. Denn hier wurde früher Bier gebraut. Auch wenn das ehemals Winterthurer Bier Haldengut nun seit einem Vierteljahrhundert in Chur produziert wird: Spuren hat es nicht nur in der Eulachstadt, sondern auch in der Schweizer Biergeschichte hinterlassen. Denn es war Haldengut-Direktor Fritz Schoellhorn, der mit der Idee eines Zusammenschlusses aller Schweizer Brauereien massgeblich an der Gründung des Bierkartells beteiligt war.
Beim Begriff «Kartell» tauchen im Kopf Bilder von Konglomeraten oder Schusswechseln zwischen Polizei und Pablo Escobar auf. Ganz so dramatisch war das mit dem Schweizer Bierkartell nicht. Aber es bestimmte 60 Jahre lang den gesamten Schweizer Biermarkt. Wie es dazu kam? Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren schwierig für die Schweizer Bierindustrie. Die missliche Wirtschaftslage nach dem Ersten Weltkrieg, der Druck der ausländischen Konkurrenz und die steigenden Importe machten ihr zu schaffen. Angestossen durch Haldengut-Direktor Fritz Schoellhorn, arbeitete der Schweizer Bierbrauerverein die «Bierbrauer-Konvention» aus, die 1935 in Kraft trat. Sie vereinheitlichte den Schweizer Biermarkt, indem sie weite Bereiche der Produktion und des Vertriebs regulierte. Unter anderem wurde die Stammwürze normiert und festgelegt, welche Sorten gebraut und zu welchem Preis sie verkauft werden durften. Zudem wurde allen Brauereien ein Einzugsgebiet zugewiesen, in dem sie Kund*innen aus der Gastronomie und dem Detailhandel beliefern durften. So gewannen die Brauereien des Kartells wirtschaftliche Sicherheit und die Kundschaft erfreute sich an erschwinglichen Preisen. Doch das Schweizer Bier verkam zum Einheitsprodukt. Von Genf bis Rorschach wurde nun dieselbe «Pfütze» ausgeschenkt. Auch bei der Werbung arbeiteten die Brauereien zusammen, sie bewarben «Schweizer Bier» – ohne Markennamen.
Planungssicherheit für die Brauereien und anständige Preise für die Konsument*innen – scheinbar eine Win-win-Situation. Aber nicht alle waren mit diesem Arrangement glücklich. Der Discounter Denner etwa wollte sich dem Preisdiktat des Bierbrauervereins nicht fügen und verkaufte eine Flasche Bier für 50 Rappen statt den abgesprochenen 70 Rappen. Das Kartell antwortete mit einem Lieferboykott. Das Bundesgericht stärkte dem Kartell 1972 den Rücken und erklärte den Boykott für rechtens. Doch die Angelegenheit war damit nicht vom Tisch. Knapp zehn Jahre später inszenierte sich der Discounter mit dem Abbild Willhelm Tells als Kämpfer gegen die «Preis-Vögte» des Kartells und unterbot dessen Preise um 30 Prozent. Es folgte ein erneuter Rechtsstreit.
Doch auch zwischen den Brauereien des Kartells hatten sich im Verlauf der Jahre Gräben aufgetan. Speziell Feldschlösschen und die Sibra-Holding aus der Westschweiz gerieten durch ihr stetes Wachstum aneinander. Immer öfter verstiessen sie gegen die Abmachungen des Kartells. Als Sibra 1988 die «Bierbrauer-Konvention» kündigte, war das Schicksal des Kartells besiegelt. Der interne Zerfall, wirtschaftlicher Druck und Veränderungen im Kartellrecht führten drei Jahre später zum endgültigen Ende der Konvention. Nach Jahrzehnten der Planungssicherheit waren die Schweizer Brauereien jedoch nicht gewappnet, sich eigenständig zu behaupten. Die meisten wählten den Weg des geringsten Widerstands: den Verkauf. Feldschlösschen verleibte sich seine Konkurrentin Sibra ein und fusionierte später mit Hürlimann. Haldengut schloss sich mit Calanda zusammen. Doch auch diese Konsolidierung konnte die Schweizer Brauereien nicht vor den ausländischen Vögeln retten, die über dem Leichnam des Kartells kreisten. Calanda Haldengut wurde 1993 vom niederländischen Riesen Heineken übernommen. Und am Ende des auslaufenden Jahrtausends wird das Winterthurer Bier Haldengut nicht mehr in der Stadt hergestellt: 1999 lagerte Heineken die Produktion nach Chur aus.
Bier, Schallplatten oder Velos
Doch nicht nur die Veränderungen am Lindberg prägten die lokale Bier-Historie der 1990er-Jahre. Im Herzen der Stadt, an der Steinberggasse 53, in einem Haus, auf dessen Giebel eine Piratenflagge weht, wurde 1995 der Getränkeladen Hako eröffnet. Der Grund dafür war zweckorientierter Pragmatismus. Denn wie das Ladenlokal an der Steinberggasse wurden in dieser Zeit auch die alten Industriehallen umgenutzt. Aus Denkmälern der industriellen Vergangenheit der Stadt wurden immer wieder spontan improvisierte Eventlokale. Der Verkauf und Konsum von Bier eines Grosskonzerns war nicht für alle mit dem Ethos halb legaler Partys vereinbar. Doch mit trockener Kehle tanzt es sich schlecht. «Und irgendwo musste man ja das Bier herhaben, das an diesen Partys getrunken wurde», sagt Aleks Toskovic, heutiger Präsident der Genossenschaft Hako. Deshalb entschlossen sich die Gründer kurzerhand, selbst Biere von unabhängigen Brauereien nach Winterthur zu holen.
Ähnlich pragmatisch verhielt es sich auch mit der Namensgebung. «Hako» steht für «Handelskollektiv». Denn: «Hätte das mit den Getränken nicht funktioniert, hätte man so auch einfach Schallplatten oder Fahrräder verkaufen können», sagt Aleks. Doch das mit den Getränken funktionierte: Hako feiert dieses Jahr sein 30-jähriges Jubiläum. Bei der Gründung war Selbstbestimmtheit von zentraler Bedeutung und die Form einer Genossenschaft als Freundesgruppe naheliegend. Die politische Haltung der Gründer zeigte sich auch in anderen Aspekten. Neben Selbstbestimmtheit legten sie grossen Wert auf internationale Solidarität. Sie lancierten zusammen mit der Brauerei Rosengarten in Einsiedeln das «Kuba Bier», das erste Soli-Bier der Schweiz. Mit dem Erlös wurden unter anderem Computer für das «Departamento des Americas» der Kubanischen Regierung gekauft. Über 30’000 Mal wurde das Soli-Bier in Winterthur und Zürich getrunken. Inzwischen ist das «Kuba Bier» ausgetrunken, doch die Idee lebt weiter. «Trinken für einen guten Zweck ist immer schön», sagt Aleks. Mit dem Bier «Linke Hand», das von der Winterthurer Brauerei Euelbräu produziert wird, vertreibt Hako noch heute ein Bier, mit dessen Konsum man gute Zwecke unterstützen kann. In welche Projekte das Geld fliesst, wird demokratisch durch eine Abstimmung entschieden. Dabei müssen es auch nicht immer internationale Projekte sein. Letztes Jahr wurde der «Spielwerkplatz» in Rikon unterstützt, auf dem unter anderem der Kinderzirkus Pipistrello sein Winterquartier hat. Mit dem Geld soll ein öffentlicher Brunnen gebaut werden.
Auch wenn der Gründungsethos heute noch gelebt wird, hat sich die Genossenschaft über die Jahre doch weiterentwickelt. So sei man beim Lieferbetrieb an Clubs und Private professioneller geworden. «Der Laden war lange vor allem Bestellbüro und Treffpunkt für Freunde. Bier wurde nur so nebenbei verkauft», sagt Aleks. Um das zu ändern, wurden vor 12 Jahren die Räumlichkeiten des Ladens renoviert. Und zwar vom Team selbst. Denn die finanziellen Mittel waren schmal. «Wir haben die neuen Regale von Hand geschliffen, gebeizt und irgendwie in die Wand geschraubt», erinnert sich Aleks. Fünf Jahre später wurde der Laden professionell renoviert. Doch wer genau hinschaut, findet auch heute noch einige selbstgebaute Regale.
«Pizza-Pils» und alkoholfreie Biere
In diesen Regalen steht inzwischen eine Vielfalt an Bieren, die zur Zeit des Kartells undenkbar gewesen wäre: Verschiedene Ales, belgische Biere, Stouts und fruchtige Sours. Das ist aber eine neue Entwicklung. «Lange Zeit war die Abwechslung nur geographisch», sagt Kaspar Müri, Co-Geschäftsleiter des Hako. Bier aus Deutschland, Argentinien, Thailand – im Hako konnte man sie kaufen. Doch es waren fast immer Lager, die geschmackliche Diversität hielt sich in Grenzen. Heute hat Hako über 300 verschiedene Biere im Sortiment. Zu verdanken ist das dem Aufstieg des Craft-Biers.
Während die Schweiz und der Rest der Welt noch im milden Aroma des Lagerbiers getränkt waren, wurde in den USA bereits in den 1980er-Jahren experimentiert: Kleine Brauereien, die mit innovativen Methoden alte Bierstile wie das India Pale Ale wiederbelebten oder mit der Kreuzung verschiedener Hopfensorten neue Geschmackswelten erschlossen. Regionalität und Neuheit standen im Zentrum der Craft-Bier-Bewegung. Um die Jahrtausendwende schwappte der Trend auf Europa über. Danach entwickelte sich der Markt rasant. In der vom Bierkartell befreiten Schweiz schossen Klein- und Kleinstbrauereien aus dem Boden. In keinem Land der Welt gibt es heute pro Kopf mehr registrierte Brauereien. «Dazu zählen aber auch viele, die ihr Bier quasi in der Badewanne brauen», sagt Kaspar. Allein in Winterthur sind es acht registrierte Brauereien. Mit Chopfab Boxer, Stadtguet und Euelbräu betreiben drei davon die Braukunst im kommerziellen Stil. Besonders Chopfab Boxer, damals noch unter dem Namen Doppelleu Brauwerkstatt, wollte es 2013 wissen. In kürzester Zeit stand ihre schwarze Dose in den Regalen von Grossverteilern wie Coop. Fünf Jahre später übernahmen sie die Brauerei Boxer aus Yverdon. Doch Expansion fand durch die Pandemie ein jähes Ende. Die Winterthurer Brauerei geriet in eine finanzielle Notlage, aus der es nur einen Ausweg gab: Seit einem Jahr ist die Appenzeller Brauerei Locher neue Mehrheitsaktionärin der Brauerei Chopfab Boxer.
Trotz dieses Schicksals hat Chopfab Boxer die Winterthurer Bierlandschaft mitgeprägt. Denn mit Pale Ales, Schwarzbieren, Honigbieren und im Holzfass ausgebauten Rotbieren gibt es heute in der Stadt eine Geschmackspalette, die auch den anspruchsvollen Gaumen entzückt. Doch ganz wird man nie vom Lager abkommen. Im Gegenteil. «Lager und Pils feiern gerade ein Comeback», sagt Kaspar. Aber auch an diesen traditionellen Bierstilen wird experimentiert. Es gibt immer wieder wilde Kreationen: «Kürzlich hatten wir ein Pils mit Pizzageschmack im Laden». Neben Craft-Bier hat sich in den letzten Jahren ein weiterer Trend abgezeichnet: alkoholfreies Bier. Das ist nicht überraschend. Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen seit Jahren, dass der Alkoholkonsum vor allem bei den jüngeren Generationen rückläufig ist. Diese Veränderung zeigt sich auch in den Regalen des Hako. «Früher hatten wir drei oder vier alkoholfreie Biere, heute sind es gegen die dreissig», sagt Kaspar. Denn die alkoholfreien Biere haben eine ähnliche Entwicklung durchgemacht wie ihre berauschenden Geschwister. Zu Beginn gab es so gut wie nur Lager oder Pils-Varianten, als exotische Option konnte man höchstens zu einem Weissbier greifen.
Die Produktion von alkoholfreiem Bier ist aufwändig. Das Bier wird normal gebraut und erst danach durch ein Verdampfungsverfahren entalkoholisiert. Doch neben Alkohol geht auch viel Geschmack verloren. Erst durch neue Brauverfahren, die von der Craft-Bier Szene popularisiert wurden, folgte die heutige Geschmacksvielfalt.
«Es gibt inzwischen alkoholfreie Biere, bei denen du keinen Unterschied zu einem alkoholhaltigen merkst», sagt Kaspar. Der Weg von der Einheitspfütze des letzten Jahrhunderts zum heutigen Aromadschungel wurde auch hier von den Craft-Brauereien gepflügt. Der Biersommelier wünscht sich, dass diese Lust, Neues zu probieren, in Zukunft nicht verloren geht: «Ich hoffe, dass es in Winterthur weiterhin ein, zwei Brauer*innen gibt, die Spass daran haben, spezielle Biere zu brauen.»
Nichts für «durchschnittliche Stangentrinker*innen»
Hinter den Gleisen des Hauptbahnhofs, in den beigen Backsteinbauten des Sulzerareals, betreibt Peter Dürsteler zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn die Mikrobrauerei «Forschungsbrauerei G48».
Seine Biere kann man in keinem Laden kaufen. «Wir haben sie früher im Hako verkauft, aber das wollen wir nicht mehr», sagt Peter. Wieso? Für ihn stehe die Qualität im Zentrum. Mit der Belieferung von Läden oder Bars gäbe es für eine so kleine Brauerei einen Produktionsstress: «Gutes Bier zu brauen ist ein Prozess, der Zeit braucht.» Deshalb gibt es sein Bier nur «über d’Gass».
Vor 30 Jahren besuchten Peter und seine Frau eine Messe im Kongresshaus Zürich. Dort erwarben sie vom Vertreter einer kleinen Firma ein Bierbrau-Set. «Damit haben wir in der Küche unserer Wohnung dann Bier gebraut», sagt Peter. Heute bezieht er von derselben Firma noch immer seine Brauzutaten. Vor über 20 Jahren wechselten Peter und seine Frau aber von ihrer Küche ins Sulzer-Areal, wo sie zuerst in beheizten Chromstahlwannen produzierten. Diese wurden den Ansprüchen bald nicht mehr gerecht und so schafften sie sich eine kleine, aber professionelle Brauanlage an. Damit kreiert Peter eine Auswahl an gehaltvollen Bierstilen. «Der durchschnittliche Stangentrinker wäre von meinen Bieren sicher nicht begeistert», sagt er.
Englische Ales, belgisches Starkbier, Fruchtbier und der Nordfranzösische Stil «Bière de Garde», Peter braut fast ausschliesslich obergärige Sorten. Untergärige wie ein Lager sind für Kleinbrauer*innen wie ihn schwierig zu produzieren. Denn ohne Kühlanlage ist es schwierig, die benötigte Gärtemperatur konstant zu gewährleisten. Sofern nicht eine separate Anlage dafür benötigt wird, schreckt Peter aber nicht vor aufwändigen Produktionen zurück. Gerade das Fruchtbier sei zeit- und kostspielig. Neben den üblichen Zutaten benötigt er dafür eine grosse Menge an reifem Obst. Zudem müsse das Bier nach dem Brauprozess gelagert werden und etwa ein Jahr «auf den Früchten liegen». Nur so bekäme sein Bier das gewünschte Aroma.
Nur eine Sorte Bier hat Peter bis jetzt noch nie gebraut: «Bislang war es für uns technisch nicht möglich, alkoholfreies Bier zu produzieren.» Ein weiterer Grund sind seine persönlichen Vorlieben. Peter mag gehaltvolle Biere: «Viele alkoholfreie Biere sind stark gehopft, um das Aroma zu verstärken, das schätzen wir nicht so.» Inzwischen gibt jedoch es andere Wege, etwa Hefearten, die bei der Gärung keinen Alkohol produzieren. So entfällt die Hürde des Verdampfens. «Vielleicht probieren wir das mal aus», sagt Peter. Neues probieren sei generell wichtig. Denn wie der Bierexperte Laurent Mousson 2018 schrieb, entspricht 80 Prozent des in der Schweiz produzierten Biers weiterhin den alten Kartellrichtlinien. Dass es überhaupt Alternativen gibt, ist Craft-Brauer*innen wie Peter zu verdanken. 25 Jahre nachdem die Braukessel im Haldengut-Areal geleert wurden, gibt es nicht ein Winterthurer Bier – sondern viele. Alleine 25 findet man im Hako.
Sebastian Galli steht gerne vor und hinter der Bar. Dort trinkt er gerne klebrige Pastry Stouts und andere wilde Bierkreationen.