Wenn der Drache Eltern entführt

250 Kinder des Schulhauses Eichliacker in Töss haben ihre eigene Oper geschrieben. Am Wochenende vom 19. und 20. Mai verwandeln sie mit dem Musikkollegium das Stadthaus in einen Campingplatz.

Der Drache seufzt. Seine Brust hebt sich. Er seufzt erneut, reisst sein Maul weit auf: «Kinder dumm, Erwachsene dumm, dann kehre ich halt wieder um.»

 

«Stopp! Das war zu leise, nochmals von vorn und ohne Textvorlage!»

 

Der Drache macht zwei Schritte zurück. Es ist kurz vor Morgengrauen, die Kinder schlafen noch  als die «Erwachsenen» zurückkommen. Einige können kaum aufrecht stehen, torkeln – das Überbleibsel einer langen Nacht an der Sky-Bar. Unruhiges Tuscheln, dann: «Wir sind wieder hier!»

Die Kinder wachen auf und fragen die «Erwachsenen»: «Wo wart ihr denn? Wir waren die ganze Nacht über allein!» Einer der «Papas» macht eine Handbewegung in die Luft, Geigenklänge erfüllen das Zimmer – erst hell, dann leicht aggressiv. Er beginnt zu erzählen: «Der Drache ist gekommen und hat uns mitgenommen.» Die «Mutter» fährt fort: «Dann sind wir weggeflogen und der Drache hat uns betrogen.» Darauf eine andere «Mutter»: «Er sagte, das sei nur ein Traum, er fliege gar nicht durch den Raum!» Einer der «Väter» sagt: «Wir sind geflogen durch das ganze All, doch dann ertönte lauter Schall.»

Klatschen. «Super, das war schon viel besser. Und jetzt versucht, noch ein bisschen mehr zu übertreiben.»

 

Einige Minuten später: Der Drache fläzt sich auf eine rote Matratze, lächelt dabei schelmisch und blickt zur Wanduhr – die Zeiger stehen auf 9 Uhr. Er springt auf. Kinder, «Erwachsene» und der Drache laufen durcheinander und heben ihre Texte, die sie in orange Mäppchen gelegt haben, vom Boden auf. Alle steuern auf die Tür zu und rufen: «Ade Frau Holscher!» Das Zimmer leert sich. Die Musik ist aus, es wird still. Jemand bleibt.

Verena Holscher sitzt am Pult und legt ihre Aloe-Vera-Cremetube beiseite, die sie kurz zuvor während der Probe den «Erwachsenen» zugeworfen hatte. «Das ist euer Mikrofon», sagte sie. Holscher ist Regisseurin, Theater- und Tanzpädagogin. Sie ist eine von vielen, die bei «Winterthur schreibt eine Oper III – Das Drachencamping» mitwirkt.

 

«Das Drachencamping» ist ein sozialkulturelles Projekt für Kinder, welches vom Musikkollegium Winterthur initiiert wurde. Kinder schreiben und inszenieren ihr eigenes Musiktheater, treffen dabei auf 25 Orchestermitglieder und erhalten so einen Einblick in die zeitgenössische klassische Musik. Diese sogenannte Musikwerkstatt gehört mit den Familienkonzerten und Schulangeboten zur Jugendarbeit des Musikkollegiums. Finanziert wird das Projekt durch Stiftungen; Hauptsponsor ist die Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung.

Nach den Musiktheatern «Fealan» (2009) und «Das verbotene Land» (2012) folgt nun «Das Drachencamping». Daran sind 250 Mädchen und Buben aller Klassen des Schulhauses Eichliacker und des Kindergartens Strittacker in Töss beteiligt. Vor rund zwei Jahren hat alles begonnen: Matthijs Bunschoten, Bratschist des Musikkollegiums und Projektleiter von «Das Drachencamping», beauftragte jedes Kind, eine Geschichte zu einem frei wählbaren Thema zu verfassen. Die Fünf- bis Sechsjährigen, die noch nicht schreiben konnten und einige Kinder, die mit der deutschen Sprache noch nicht so vertraut waren – der Migrationsanteil in der Schule liegt bei 62 Prozent – durften ihre Geschichten zeichnen. Bunschoten und das Kernteam des Projekts sahen alle 250 Geschichten durch und suchten nach einer Antwort auf die Frage: Welche Themen beschäftigen die Kinder? «Ich führte eine Strichliste mit Wörtern, die häufig genannt wurden», sagt der Projektleiter. Drache, Mutter, Vater und Ferien waren Begriffe, die in den Geschichten oft auftauchten. Dagny Gioulami, Katrin Sauter und Andreas Nick befassten sich ebenfalls mit den Texten und Zeichnungen. Die Librettistin, die Regisseurin und der künstlerische Projektleiter schrieben zu den Begriffen je einen Plot und versuchten dabei, die Geschichten der Kinder miteinander zu verknüpfen. Die Storyline von «Das Drachencamping» konnte schliesslich überzeugen und diente als Basis für die Stücke, welche die beiden Kompositionsklassen der Konservatorien Winterthur und Zürich komponierten.

Eine Gruppe von 24 Kindern schrieb zur Musik das Libretto. Dazu formulierte jedes Kind – nebst vielen anderen Schreibinputs – einen Text, in dem es drei Dinge aufzählte, die es an seinen Eltern nicht mag. Da wären zum Beispiel die endlosen Gespräche am Mittagstisch: «Ich hasse Salat über alles, ich will lieber Pizza!» Die Librettistin Dagny Gioulami sammelte daraufhin die Texte und passte diese nachträglich an.

Verena Holscher sitzt noch immer am Pult. «Ich arbeite sehr, sehr gerne mit Kindern zusammen», sagt sie. Holscher unterstützte die Kinder unter anderem beim Einstudieren ihrer Tanzeinlagen. Dabei setzte sie Szenen in Bewegung um, entwickelte Bilder zur Musik und zur Geschichte aus dem, was die Schülerinnen und Schüler an Ideen, Fähigkeiten und Wünschen mitbrachten.

Holscher betreut zwölf Gruppen; seit vergangenem November probt sie mit ihnen. Manche Gruppen sieht sie einmal in der Woche, andere lediglich einmal pro Monat. «Ich hätte gerne mehr Zeit, um mit den Kindern zu üben», sagt sie. Damit die Mädchen und Buben möglichst wenig Unterrichtsstoff verpassen, fallen die Proben meistens auf musische Fächer oder Turnstunden.

 

9:45 Uhr: Die Schulglocke läutet die Pause ein. Verena Holscher verabschiedet sich. Die Tür steht offen, Kinder rennen vorbei. Es herrscht ein buntes Treiben auf dem Pausenplatz. Da sind sie wieder, die «Erwachsenen», die der Drache entführt hat. Die «Erwachsenen» sind Sechstklässler. «Es ist schon mega toll, dass wir so grosse Rollen spielen dürfen», sagt Annika Wechner. Ihre Klassenkameradin Selina Furrer nickt: «Hm, aber auch anstrengend, zum Beispiel, wenn der Text nach einem Tag sitzen muss.» «Oder wenn es bei den Proben manchmal chaotisch zu- und hergeht», meint Saphira Guggisberger. Salome Strassmann findet, das Musiktheater schweisse die Schülerinnen und Schüler zusammen. Das Projekt sei eine coole Erfahrung, lautet der Tenor. Wenn es um den Musikgeschmack geht, sind sich die Kinder ebenfalls einig: lieber Hits aus den Charts, Hip-Hop und Pop als klassische Musik.

Die Musik zu «Das Drachencamping» ist durchwegs nicht nur klassisch. So rappen zum Beispiel Kinder zu den Beats des Schlagzeugers. Für das Stück ist die Musik von zentraler Bedeutung; viele Dialoge sind musikalisch unterlegt. «Es geht nicht um einen besonderen Musikstil, sondern ums Live-Erlebnis und darum, dass die Kinder aktiv sein können», sagt der Leiter Matthijs Bunschoten. Ob die Kinder Musik auf dem Handy oder während eines Konzerts hören, sei nicht dasselbe. Für die Profimusiker sei es wunderbar, wenn sie erlebten, wie die Kinder ernsthaft und freudvoll mitarbeiten.

 

10:15 Uhr: Der Pausenplatz leert sich. Die «Erwachsenen» müssen sich beeilen, sie rennen die Treppe hinauf; der Unterricht beginnt.

Im Singsaal, die Treppe runter, findet schon die nächste Probe statt. Ein Mädchen übt den Spagat, macht sich startklar für ihren Tanz-Part. In einer Ecke auf dem Parkett sitzt eine Schülerin mit einem einbandagierten Fuss. Sie könne leider nicht mittanzen, sagt sie. Neben ihr sitzen acht Mädchen. Sie spielen das Telefonspiel: «Musikbox?» – «Nein, nein, das Anfangswort war Znünibox!» Gekicher. Vor einem Fenstersims halten zwei Buben einen Schwatz. Beide waren schon bei der ersten Probe dabei; sie spielen die Kinder der «Erwachsenen». «Igitt, was ist das?», fragt der eine. «Ein Muffin», antwortet sein Kamerad und legt die süsse Versuchung mit dem Gupf stolz in seine ausgestreckten Patschhändchen. «Sie, Frau Sauter, schauen Sie mal, was wir gefunden haben!» «Einen Muffin? Den hat gestern wohl jemand vergessen», meint Katrin Sauter. Die Regisseurin legt das Gebäck auf einen Stuhl. «Lasst uns beginnen. Wisst ihr noch, wo ihr euch hinstellen müsst?» Die Schülerinnen und Schüler nicken, gehen auf Position: Links stehen die Bademeisterinnen und Bademeister, in der Mitte die Kinder und ein bisschen weiter hinten die K.O.-Tropfen-Geister.

Sauter drückt die Play-Taste auf ihrem Laptop. Die Kinder in der Rolle der K.O.-Tropfen-Geister tanzen zu den Geigen-, Oboen- und Flötenklängen, die nach und nach leiser werden. Unheilvolle, bedrohliche Klaviermusik ertönt. «Hier ist Mäusespuke!», ruft eines der Kinder. «Und das Gehirn von einem Fröschli», sagt ein Zweites und lächelt dabei hämisch. Während die Kinder einen K.O.-Zaubertrank zusammenbrauen, drehen sich die Geister im Kreis und bewegen ihre Arme auf und ab. Die Musik wird lauter, schon fast furchteinflössend. Die Kinder mischen – ganz heimlich – den fertig zubereiteten Zaubertrank mit Kaffee. «Die Bademeister werden schlafen wie kleine Babys», flüstert ein Kind. Und wirklich – nachdem die Bademeister das Gebräu geschlürft haben, fallen sie in einen tiefen Schlaf.

«Okay, mal bis hierhin, das reicht», sagt die Regisseurin zu den Schülerinnen und Schülern. Eine Kamikaze-Probe sei das gewesen. «Ihr konntet jetzt halt nicht alles durchspielen», sagt Sauter und erteilt die Hausaufgaben: Texte respektive Bewegungen lernen. Die Bademeisterinnen und Bademeister, Kinder und K.O.-Tropfen-Geister stürmen nach draussen in den Gang, gehen zurück in die Klassenzimmer.

Sauter war schon bei den ersten zwei Musiktheaterprojekten «Fealan» und «Das verbotene Land» dabei; dazumal noch als Theaterpädagogin. «Mit Kindern zu arbeiten ist bereichernd, braucht aber auch viel Geduld», sagt die Regisseurin. Kinder seien spontan, hätten Freude am Entdecken und überraschten mit kreativen Ideen. Sie freut es, «wenn die Kinder nicht nur auf der schauspielerischen Ebene, sondern auch auf der Inszenierungs- und Dramaturgieebene anfangen mitzudenken und sich einbringen.» Die Kinder würden Sozialkompetenzen entwickeln und mehr Selbstvertrauen erlangen. «Sie sollen auf der Bühne glänzen.»

Bald ist Showtime: Am 19. und 20. Mai treten die 250 Schülerinnen und Schüler im Stadthaus in Winterthur auf. Die Bühne wird zum Campingplatz, die Galerie zur Sky-Bar und das Parkett zu einem riesigen Schwimmbecken. «Der Druck steigt», sagt Sauter, bleibt dabei aber gelassen. «Nach den Aufführungen werden wir wohl alle knülle und gleichzeitig voller Adrenalin sein.»

 

 

Musiktheater «Das Drachencamping»

Freitag, 19. Mai, 18:30 Uhr

Samstag, 20. Mai, 14 und 17 Uhr

Eintritt: Erwachsene CHF 25, Kinder CHF 10 / 5 (mit ZKB-Karte)

Stadthaus Winterthur

Stadthausstrasse 4a

Tickets gibt es online: www.musikkollegium.ch

Wo bleibt der Dialog?
Wo bleibt der Dialog?
Hintergrund

Um mit der lebendigen Kulturszene in Winterthur Schritt zu halten, muss die Stadtverwaltung sich mit dieser zumindest alle paar Jahre einmal aktiv auseinandersetzen. Doch wie könnte eine solche…

Warum die Kulturstadt um ihre Zukunft bangt
Warum die Kulturstadt um ihre Zukunft bangt
Hintergrund

Zahlreiche Institutionen und engagierte Menschen sorgen das ganze Jahr über für ein abwechslungsreiches kulturelles Angebot in Winterthur. Aktuell wird ausgehandelt, wie die Stadt dieses Angebot in…

Zwischen Zerfall und Pragmatismus
Zwischen Zerfall und Pragmatismus
Hintergrund

Wer der Zürcherstrasse entlangfährt, kommt nicht darum herum, den Blick über das Zentrum Töss schweifen zu lassen. Seit über 50 Jahren prägt der brutalistische Bau mit seinen markanten Formen und der…

Schachzüge und Tacklings
Schachzüge und Tacklings
Hintergrund

Football assoziiert man hierzulande in erster Linie mit der NFL, der National Football League der USA. Doch auch in der Schweiz ist die Sportart verbreiteter, als man meinen würde. Die Winterthur…

Kopfstand auf zwei Rädern
Kopfstand auf zwei Rädern
Hintergrund

Gleichgewicht, Konzentration, Kraft: Auf einem Kunstrad braucht man ein ganzes Bündel an Skills. Velofahren an sich kann für manche schon eine Herausforderung sein – und dann noch auf dem Lenker…