Der Kern des Quartiers Töss war stets der Bahnhof. 1875 eröffnet, diente der heutige Güterschuppen als Bahnhofsgebäude. Das Quartier entwickelte sich um die Gleise herum. Auch für die Maschinenfabrik Rieter war der Anschluss an den Fernverkehr wichtig. 1910, nach der Gründung der SBB, wurde das alte Bahnhofsgebäude ersetzt und diente fortan als Güterschuppen. Bis 2005 war der Bahnhofschalter besetzt, danach zog sich die SBB mitsamt ihren Beamten zurück. Stattdessen kamen Automaten. Doch die Tössemer, wenn auch enttäuscht von der Degeneration ihres Bahnhofs zur blossen Haltestelle, liessen sich die Abwertung ihres Quartiers nicht gefallen.
«Ort der Begegnung» für Töss
«Alles fing 2005 an», sagt Werner Frei. Der 63-Jährige ist Mitglied des Trägervereins «Gemeinschaftszentrum (GZ) Bahnhof Töss» und Winterthurer durch und durch, er wuchs bereits im Tössfeld auf. Wenn er vom Güterschuppen spricht, schwingt Leidenschaft in seiner Stimme mit. «Das Schlagwort für Töss war damals ‹Verslumung›», erinnert sich Frei. «Das Quartier war durch die Zürcherstrasse geteilt, es gab immer mehr zwielichtige Lokale und immer mehr Verkehr.» Man entschied sich, den Stadtrat nach Töss einzuladen und ihm die Lage darzulegen. Prompt reagierte die Politik: Es wurde eine Zukunftskonferenz gegründet. «Man wollte von der Bevölkerung wissen, wo der Schuh drückt», sagt Frei. Die Resonanz war gross, der grosse Saal des Zentrums Töss war an den drei Tagen der Konferenz voll. Im Rahmen der Zusammenkünfte wurden dann verschiedene Massnahmen zur Quartierförderung beschlossen. Darunter auch eine Projektgruppe «Orte der Begegnung». Sofort dachten Frei und einige Kollegen an den leer stehenden Güterschuppen. Für die Tössemer Dorfet 2006 wollte man dort eine Bar entstehen lassen. Kurzerhand wurde von der SBB eine Bewilligung zur Nutzung eingeholt. Die Beiz war ein voller Erfolg, der Grundstein für die Umnutzung des Schuppens gelegt.
«Aktion pro Güterschuppen»
Der Trägerverein GZ Bahnhof Töss, ebenfalls 2006 gegründet, begann das Projekt Güterschuppen voranzutreiben. Der Grafiker und Sympathisant, Jan Zablonier, gestaltete als Werbemittel für den Schuppen einen Modellbogen. Eine Softwarefirma lancierte für die «Aktion pro Güterschuppen», wie sich die Werber mittlerweile nannten, eine eigene Onlineumfrage. Mit dieser forschte man in der Bevölkerung nach neuen Nutzungsmöglichkeiten für das Gebäude. Frei muss schmunzeln: «Die Umfrage war vor allem bei den Kindern beliebt, Schülerinnen und Schüler malten sogar Plakate, für welche Idee man stimmen sollte.» Die Kampagnenführung bewährte sich, ein Blick zurück in die Resultate zeigt: Von allen platzierten Ideen erhielt der Streichelzoo damals am meisten Stimmen. «Mittlerweile sind die Initiantinnen aber alles junge Damen, die das Interesse an einem Tierpark verloren haben», grinst Frei.
Die Stadt, damals unter Präsident Ernst Wohlwend, unterstützte die engagierten Bürger bereitwillig. «Es gab einen Vorschlag von den Behörden in Zusammenarbeit mit einem renommierten Architekten», berichtet Frei. Um die geschützte Fassade des Schuppens zu erhalten, war ein eigenständiger Baukörper im Innern des Gebäudes geplant, inklusive nötiger Isolation und sanitärer Anlagen. Solche Lösungen haben ihren Preis – aber in der Politik gab es Wechsel. Und die neue Regierung war nicht mehr bereit, diesen zu zahlen. «Der neue Stadtrat hat uns über ein Jahr lang vertröstet. Die Zusammenarbeit gestaltete sich schwieriger und schwieriger.» Frei erzählt von Investitionsplänen, in denen der Schuppen plötzlich nicht mehr auftauchte, gar von einer schriftlichen Zusicherung, die sich als Schall und Rauch entpuppte. 2014 starb das Vorhaben endgültig. Das Projekt zu einer ganzjährigen Nutzung des Güterschuppens war den Sparzielen der Stadt zum Opfer gefallen. Bloss 90'000 Franken konnten ins Budget 2015 gerettet werden. Damit wurden dann die nötigsten Renovationsarbeiten finanziert. Neu hat der Güterschuppen eine eigene Toilette, eine Küche und eine verbesserte Systemtechnik, darunter auch frische Sicherungen.
Bands, Lesungen, Flohmärkte
Die relative Unabhängigkeit von der Stadt bringt aber auch Vorteile mit sich. Früher hatten quartierbezogene Anlässe stets Vorrang. Seit sich die Stadt zurückgezogen hat, stehen die Türen auch privaten Mieterinnen und Mietern offen. «Wir hatten schon drei oder vier Geburtstage hier», sagt Frei. Der Verein «Kulturstreuer» brachte indes mit der Band «U-Turn» das erste Konzert in den Güterschuppen. Die Band spielte Blues und Soul nach alter Südstaatenmanier. Am 21. Mai wird die fünfköpfige Folkgruppe «Kolasköki» skandinavische und einheimische Melodien zum Besten geben. Der Verein «Fussballkultur» hat für die bevorstehende Europameisterschaft wieder ein Public Viewing angekündigt. An der letzten WM brachten die Fussballfans rund 10'000 Besucherinnen und Besucher vor ihre Leinwand beim Güterschuppen, der Eintritt war und bleibt auch in Zukunft frei. Im Programm stehen weiter Lesungen, ein Sonnenwende-Fest, ein Rockkonzert, Floh- und Weihnachtsmarkt und zahlreiche weitere Anlässe.
Erst einmal gilt aber frei nach Kamp: «Alles neu macht der Mai». Am 28. Mai feiert das GZ Bahnhof Töss nämlich die Wiedereröffnung des Güterschuppens. Frei verspricht ein vielseitiges Programm. Die Stadtharmonie und die «El Dorados», eine Band mit unendlichem Repertoire an Coversongs, werden aufspielen. Für Hungrige steht ein internationales Buffet bereit. Und die Theaterpädagoginnen von der «Bühnerei», einem Raum für Theater und Zirkus, werden Kinder und Jugendliche Zirkusluft schnuppern lassen. Zusammen mit der Spielgruppe «Müüslinäscht», die im Bahnhofsgebäude eingemietet ist, sorgt die Cevi für weiteres Kinderprogramm.
Der Güterschuppen wird dank den Tössemerinnen und Tössemern wieder zu einem lebendigen Quartiertreffpunkt. Zumindest im Sommer, im Winter gibt es gezwungenermassen eine Saisonpause. Die nötige Aussenisolation, welche Kälte draussen und Lärm drinnen halten würde, gibt es noch nicht. Vorerst.
Wiedereröffnung
28. Mai, ab 16 Uhr
Güterschuppen Töss