Integration geht durch den Magen

Vergangenen Sonntag fand der Begegnungsanlass «Über den Tellerrand» im Gaswerk statt. Asylsuchende aus den regionalen Auffangzentren und die Einwohner Winterthurs konnten sich beim gemeinsamen Essen und Musik etwas besser kennenlernen.

An diesem Sonntag mischt sich Schnee mit Regen, Wind und Kälte. Nicht der beste Tag, um sich aufs Velo zu schwingen. Ich tue es trotzdem, die Neugier ist zu gross. Zufällig habe ich von «Über den Tellerrand» gehört, einem Begegnungsanlass für Asylsuchende und Winterthurer Bürgerinnen und Bürger. Ich trete ordentlich in die Pedale, um mich den widrigen Verhältnissen schnellstens wieder zu entziehen. «Bei diesem Wetter wird sich niemand vor die Türe wagen!», denke ich.

Falsch gedacht: Der Vorplatz des Kulturzentrums Gaswerk ist rappelvoll mit Fahrrädern. Erstaunt suche ich mir einen geeigneten Abstellplatz. Die Indizien bestätigen sich: Im grossen Saal scheint kein Quadratmeter mehr frei, der Andrang ist riesig. Die aufgestellten Festbänke sind besetzt bis auf den letzten Platz. Trotzdem herrscht ausgelassene Stimmung. Kinder flitzen den Erwachsenen um die Beine und bestaunen das bunt glitzernde Sortiment des Flohmarktes. Es wird geschwatzt, gelacht und gesungen: Die Musikgruppe «Stimmvolk» spielt mit Akkordeon und Geige, ein spontan gebildeter Chor begleitet.

 

Gemischte Kulturen, gemischte Angebote

«Wir waren völlig überrascht. Mit einem solchen Andrang hatten wir nicht gerechnet», sagt Lea Reutimann. Die Winterthurerin ist Mitorganisatorin den Festes, das viele Ideen unter einen Hut bringen konnte. Die Hauptattraktion war das Essen: Gekocht wurden Spezialitäten aus dem Jemen, der Türkei, Gambia und Syrien. Auch die Schweizer Küche fand mit Älplermagronen eine würdige Vertretung. Zudem war ein Flohmarkt im Saal untergebracht. Dessen Erlöse fliessen in diverse Projekte zugunsten von Flüchtlingen, beispielsweise den «Frauen*znacht», ein Kochprojekt von, für und mit Frauen. Oder die Deutschkurse, die das Gaswerk gemeinsam mit der Asylorganisation Zürich und Benevol seit anfangs März anbietet. Für das Kuchenbuffet gab es zahlreiche freiwillige Bäckerinnen und Bäcker; das Ergebnis liess sich sehen: Die Tische waren überladen mit Süssgebäck aller Art. «Am Schluss hat der Kuchen allerdings gerade so gereicht», sagt Reutimann. Bei den anderen Speisen galt leider: «Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.»

 

Informationen zur Freiwilligenarbeit

Verschiedene Organisationen nutzten das Fest, um den Besucherinnen und Besuchern aufzuzeigen, wo noch Hilfe benötigt wird. Die Dachorganisation für Freiwilligenarbeit Benevol und das Solidaritätsnetz Zürich waren vertreten. Auch der Kulturraum «Lange Weile» warb für sein Programm. Am 1. April wird dort ein Abend dem Thema Islam gewidmet, ausserdem finden dort auch regelmässig Deutschkurse statt. Radio Stadtfilter war ebenfalls vor Ort. Das lokale Radio beendete seine Themenwoche «Zuflucht» mit Live-Berichten vom Event.

 

Eigeninitiative erwünscht

Für Helferinnen und Helfer wie das Publikum war der Anlass ein Erfolg. «Einige sagten mir, Winterthur habe genau auf so etwas gewartet», berichtet Reutimann. Warten war für sie allerdings keine Option. Wichtig sei eben, nicht nur über freiwilliges Engagement zu reden, sondern sich konkret zu beteiligen. Reutimann erhofft sich vom Anlass folglich auch mehr als nur einen punktuellen Erfolg. «Klar hatten wir viele Besucherinnen und Besucher. Ich wünsche mir aber, dass die eine oder der andere inspiriert wurde, selbst etwas in der Sache zu unternehmen.» Am besten würden Hemmungen überwunden, wenn man mit Geflüchteten in Kontakt komme und sich mit deren Situation auseinandersetze. Auch die Organisatoren des «Über den Tellerrand» waren zuvor im Durchgangszentrum «Kloster» und tauschten sich dort mit den Bewohnerinnen und Bewohnern aus. «Es ging uns auch darum, die Interessen der Asylsuchenden abzuklären», sagt Reutimann. Schliesslich waren sie die Hauptgäste und Mitorganisatoren des Anlasses.

Als ich das Gaswerk wieder verlasse, scheint mir die Sonne ins Gesicht. Die dunklen Wolken haben sich gelichtet. Man verabschiedet sich voneinander und kehrt in seine eigene Welt zurück. Es bleibt zu hoffen, dass der ein oder andere etwas von dieser Exkursion mitnimmt.

 

Lea Reutimann wohnt seit mehreren Jahren in Winterthur und arbeitet als selbständige Fotografin. Zudem ist sie Mitorganisatorin des «Frauen*znacht» im Gaswerk, seit kurzem Bildredakteurin des «Milchbüechli» und ab und an Fotografin fürs Coucou-Magazin.

Informationen zu Projekten:

Benevol Schweiz:  www.benevol.ch

Kulturraum Lange Weile: www.lange-weile.ch

Radio Stadtfilter, Themenwoche «Zuflucht»: www.stadtfilter.ch

Frauen-Znacht, gemeinsames Kochen im Gaswerk: frauenznacht@immerda.ch

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