Ein Panoptikum des arabischen Films

Ein Panoptikum des arabischen Films

Mit dem grossen Fokus «Arab Encounters – Visions and Realities» bringen die Internationalen Kurzfilmtage Facetten arabischen Filmschaffens auf die Leinwand.

Vor einem Strauch hält eine Schauspielerin wechselnde Titelseiten des Magazins «Al-Hilal», einer ägyptischen Zeitschrift der 1950er- und 1960er-Jahre,in die Kamera. Auf den Covers ist die algerische Freiheitskämpferin Jamila Bouhired in unterschiedlichen Darstellungen zu sehen, Erzählstimme und Schauspielerin wechseln sich ab und formen die Annäherung an Jamila Bouhired. Mit der Performance «Have You Ever Killed a Bear? Or Becoming Jamila» wirft die Filmemacherin Marwa Arsianos einen Blick zurück auf sozialistische Gesellschaftsentwürfe in Ägypten und auf den antikolonialen Befreiungskampf Algeriens. Der Experimentalfilm rekonstruiert mithilfe der unterschiedlichen Inkarnationen der Protagonistin in Film und Presse, wie Jamila zur Ikone des algerischen Unabhängigkeitskrieges wurde. Auf den Spuren dieser Geschichte werden verschiedene Stimmen und Materialien montiert und es wird die Frage in den Raum gestellt: Was bedeutet es, die Rolle der Freiheitskämpferin zu spielen? Marwa Arsanios zeigt in ihrem Werk, wie die klare Rollenverteilung der Geschlechter, die Frauen aus dem öffentlichen Leben ausschloss, für kurze Zeit aufgehoben schien. Unter dem Banner der Revolution und der Frage nach dem Heute dechiffriert die Regisseurin (Ge-)Schichten und Genderkonstruktionen jenseits eines vermeintlich neutralen «dokumentarischen Blicks».

 

Für Vielfalt und Zufall

 Dieses aus einer beeindruckenden Fülle von Kurzfilmen herausgepickte Werk ist weder repräsentativ für den Programmteil «Arab Women: Measuring the World», noch ist dieser Block repräsentativ für «Arab Encounters – Visions and Realities», den Grossen Fokus der diesjährigen Internationalen Kurzfilmtage in Winterthur. Und keineswegs kann – und will – der Grosse Fokus «das» arabische Filmschaffen repräsentieren. Glücklicherweise, denn solch homogenes Ganzes ist Illusion.

Das Kuratorenteam und John Canciani, Künstlerischer Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur, versuchten denn auch gar nicht, ein solches zu präsentieren. Vielmehr vermitteln sie mit «Arab Encounters – Visions and Realities» unterschiedlichste Facetten des arabischen Filmschaffens: Distanzierungen und zugleich Annäherungen von Diaspora-Arabern und -Araberinnen, Filme aus dem Irak, visuelle Spielereien des libanesischen Films oder trivialpopulärer Mainstream der ägyptischen Filmindustrie. In diesem Bewusstsein erkürt «Arab Encounters – Visions and Realities» die dem Kurzfilm-Format innewohnende Widerspenstigkeit zum Gestaltungs- und Ordnungsprinzip – raum- wie zeit-überschreitend und über Landesgrenzen hinweg.

 

Gegenbild zum schnelllebigen Tagesjournalismus

Neben dem Block «Arab Women: Measuring the World», in dem hervortritt, wie sich Frauen ihre Geschichten in postkolonialen Verhältnissen mittels künstlerischer Strategien aneignen und so neue Landmarken in der arabischen Welt setzen, entfalten weitere sieben Programme den Strauss bunter Kurzfilme: «Arabilicious – Arab Cinema Reloaded» präsentiert Werke aus traditionsreichen, etablierten arabischen Filmindustrien, mit visuellen und narrativen Verwandtschaften zu hierzulande bekannten filmischen Konventionen. Mit «Fever Through the Night» gibt es ein Programm über Revolutionen zu sehen, das – anstatt Thesen zu politischen Umschwüngen aufzustellen – auf poetische und sinnliche Weise die Lebens-, Leidens- und Liebesbedingungen im arabischen Raum thematisiert. Geografisch punktueller gibt «Beirut Video Visions» Einblick in das zeitgenössiche Schaffen libanesischer Videokünstler und -künstlerinnen sowie Filmschaffenden und deren Blick auf die paradoxe, geheimnisvolle Hauptstadt des Landes und ihrer Spuren sozialer, politischer und persönlicher Geschichte. Um solche persönliche Geschichten im gesellschaftlichen Kontext geht es in «Family Affair – Far from Familiar»: Was geschieht mit dem Fundament der Familie, wenn sich einzelne Mitglieder nicht den herrschenden gesellschaftlichen Normen und Zwängen unterordnen, weil sie anders denken, anders fühlen oder anders lieben? Mit der Frage, wie 35 Jahre Diktatur und drei verheerende Kriege Kultur und Gesellschaft prägen, beschäftigt sich «Iraq – Redefining Identities»; und der Programmblock «The Syrian Revolution Will Not Be Televised» zeigt den Umbruch in Syrien durch Produktionen der syrischen Bevölkerung – fern der formalen und inhaltlichen Erzählweise der hiesigen Massenmedien. Mit etwas mehr Distanz, aus einer von vielen möglichen Perspektiven dieser heterogenen Diaspora zeigt die aus Palästina stammende, in Kuwait geborene und in den USA aufgewachsene Filmemacherin Basma Alsharif in «Nomad Diaries», was es bedeutet, in erster Linie Mensch und nicht Araberin zu sein.

Canciani betont mit Blick auf den Grossen Fokus: «Wir entschieden uns bewusst gegen die Reproduktion eines bekannten Bildes und – mit Mut zur Lücke – für Ein- und Ausblicke auf uns unbekannte Realitäten. Die acht Programme stellen ein Gegenbild zum schnelllebigen Tagesjournalismus, welcher uns regelmässig mit spektakulären, teils inszeniert wirkenden Bildern aus der arabischen Welt füttert. Wir zeigen einen arabischen Alltag, der uns mit gängigen Stereotypen brechen lässt und uns neue filmische Visionen präsentiert». Die versammelten Filme arabischer Filmschaffender vermögen westlichen Besuchern und Besucherinnen neue Perspektiven zu eröffnen.

 

 

Grosser Fokus «Arab Encounters – Visions and Realities»

Internationale Kurzfilmtage Winterthur, 3.–8. November 2015

Verschiedene Spielstellen

Detailliertes Programm ab 14.Oktober: www.kurzfilmtage.ch/programm15/

 

Bildlegende:

«Have You Ever Killed a Bear? Or Becoming Jamila» 2012-2013, Videostill

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