Imaginierte Identitäten und ihre realen Auswirkungen.

Imaginierte Identitäten und ihre realen Auswirkungen.

Interview mit Fatima Moumouni.

1. Woher wir kommen, woher wir reden

 

Ruedi Widmer: Wir widmen uns in diesem

Gespräch dem Thema Identität der Schweiz,

genauer: Wen sie ein- und was sie ausschliesst.

Da ist es nicht unwichtig zu fragen, als wer wir

sprechen. Zuerst kommt ein Vorname, dann ein

Nachname, dann ein Komma – und dann, nach

dem Komma, was kommt bei dir?

Fatima Moumouni: Gewohnheitsmässig wäre es Spoken-Word-Poetin, wobei bei mir die Themen oft sozialanthropologische sind. Um alles abzudecken, was ich mache, müsste man vielleicht «Schreibende» sagen.

RW: Herkunft soll bei dir also nicht zu dem

gehören, was nach dem Komma kommt?

FM: Ich sage jeweils, dass ich aus Deutschland komme. Ich bin vor acht Jahren in die Schweiz gezogen, habe ein Ethnologie-Studium in Zürich absolviert, und dabei angefangen, ethnologische Methoden auf meine neue Wahlheimat Schweiz anzuwenden. Das mache ich eigentlich bis heute.

RW: Wenn es um Identität als Frage von

Inklusion und Exklusion geht: Was gibt es sonst

noch, das jemand, der dir zuhört, über dich

wissen müsste?

FM: Da würde ich noch hinzufügen, dass ich aus München komme, also aus einer anderen sozialen Umgebung als derjenigen, in der ich jetzt lebe. Gerade beschäftige ich mich mit dem Thema der Klassenzugehörigkeit und merke, dass ich in der Schweiz irgendwie einer anderen Schicht zugehörig bin als es in Deutschland der Fall war. Ausserdem lasse ich extra aus, was mein Gegenüber hören will, wenn es fragt, wo ich denn «wirklich» «herkomme». Das tue ich, um darauf hinzuweisen, dass mir mein «von hier» oder «München» wichtiger ist, als man mir oft zuschreibt.

RW: Wenn ich die erste Frage jetzt auch

bewusst selber beantworte, dann würde ich

sagen, dass man über mich wissen muss, dass

ich Journalist, Pädagoge und Bildungsbürger

bin. Ausserdem ist wohl erwähnenswert, dass

ich durch eine Patchworkfamilie mit drei

Personen verbunden bin, von denen zwei in

Kuba und ziemlich weit weg vom

Bildungsbürgertum geprägt wurden. Die dritte

Person, ein vierjähriger Junge, wächst jetzt mit

einem spanisch klingenden Geschlechtsnamen

in dieser Schweiz auf, in der die Präsenz der

Anderen, wie ich es nennen würde, zunehmend

sichtbarer wird. Was zeichnet aus deiner Sicht

eine Schweiz aus, die gelernt hat, mit dieser

Präsenz umzugehen?

FM: Im Vordergrund steht für mich eine ehrliche Aufarbeitung der eigenen Geschichte, wie sie im öffentlichen und populären Diskurs rezitiert wird. Dazu gehört der Umgang mit bestimmten Begriffen, wie etwa dem der Neutralität. Wie neutral war und ist die Schweiz wirklich? Und weiter: Ist Neutralität an sich etwas Positives? Es gibt Fragen, bei denen ein Land eine klare Position einnehmen muss. Weiter glaube ich, dass eine postmigrantische Schweiz zwar um den Wert einer Konsenskultur weiss, aber keinen Konsens zwischen offenen und menschenfeindlichen Einstellungen zulässt. Gerade im Kontext von Rassismus-Debatten beobachte ich jedoch, wie man vom Demokratieverständnis à la «man muss mit allen reden» in einen ewigen Kreislauf gezwängt wird und mit Leuten sprechen muss, die das Gespräch gezielt sabotieren. Die Grenze des Sagbaren wird in diesen Kontexten tendenziell nicht inhaltlich, sondern in der Tonalität gesetzt. So können Rassismus und andere Arten von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit mit einer Kultur der Höflichkeit, des Respekts und des Zuhörens koexistieren. Man stilisiert Konsens als hohen Wert und fragt nicht nach dem Preis, den man unter Umständen dafür bezahlt. Die Werte als solche stelle ich überhaupt nicht in Frage. Sobald die Schweiz ihre Werte ernst nimmt, sind die Chancen gross, dass sich alle Bürger*innen in ihr wohlfühlen.

 2. Wer wen in die Minderheit versetzt

RW: In meiner Wahrnehmung gibt es in der

Schweiz eine Mehrheitsgesellschaft insofern, als

immer wieder markiert wird, wer voll

dazugehört, wer nur bedingt, und wer gar nicht.

Was hingegen wirklich geteilte Werte, und somit

auch kollektive Identität, betrifft, gibt es die

Mehrheitsgesellschaft nicht. Die Stimmen, die in

der Summe ausgrenzend wirken, haben in

Wirklichkeit nicht so viel gemeinsam. Mit

anderen Worten: Die homogene Kultur und

Identität ist ebenfalls einer der Mythen, die in

diesem Land gepflegt werden. Wie nimmst du

das wahr?

FM: Ich stimme dem zu. Es sind nationale Narrative, die Ausgrenzung bewirken, und nicht eine homogene Kultur an sich. Dennoch gibt es in diesem Land etwas, was ich anderswo so nicht finde: Ständig wird ein Unterschied markiert. Ständig und wirksamer als anderswo wird ein «Wir da» und ein «Die dort» manifestiert.

RW: Was ich daran spannend finde: Diese

Botschaft wird zunehmend auch von Leuten

vermittelt, die in der zweiten oder dritten

Generation «da» sind. Umgekehrt gibt es Leute

mit blütenreinem Schweizer Stammbaum, zu

denen zum Beispiel auch ich gehöre, die sich

zunehmend davon distanzieren.

FM: Ich glaube, dass man sich der Vorstellung von der Schweiz als eine Insel der Qualität und Güte ohne Reflexion über diese Botschaft kaum entziehen kann. Die Schweiz hat nicht nur die schönsten Berge und die besten Werte, sondern auch die besten Kartoffelschäler und Unterhemden. Es gibt Werte, die als fast exklusiv schweizerisch vermittelt werden. Pünktlichkeit, Effizienz, Leistungsbereitschaft, Qualitätsbewusstsein. «Swissness» vermittelt die eigene Einzigartigkeit, das eigene Bessersein als Schweizer*in. Sich davon zu distanzieren, ist schwierig.

 3. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Anderen

 

RW: Die Frage der Identität ist mit der Frage

der Sichtbarkeit verbunden. Da geht es

beispielsweise um die Sichtbarkeit oder Präsenz

nicht weisser Menschen in Medien. Wie würdest

du hier das Ziel formulieren?

FM: Das Ziel sollte sein, dass People of Colour in einer ausreichenden Zahl sichtbar werden. Und zwar nicht, weil sie anders sind oder anders aussehen, sondern weil dadurch das unbewusste Vorurteil, sie gehörten nicht dazu, also die fehlerhafte Wahrnehmung, der sogenannte Bias, behoben wird. Bevor dieses Ziel erreicht ist, ist es offenbar unumgänglich, dass People of Colour wegen ihrer Hautfarbe, also quasi als «Quoten-Andere», eingeladen werden. Anders kriegt man den Bias – von dem ja viele glauben, dass es ihn gar nicht gibt – nicht weg. Das Ziel ist erreicht, wenn Marker wie Hautfarbe oder Name einfach keine Rolle mehr spielen. Aber der Weg ist noch lang.

RW: Kann es helfen, wenn in der Leitung von

Institutionen, wie zum Beispiel Schulen oder

Altersheimen, die Menschen, die Herkünfte und

die Prägungen real und sichtbar gemischt sind?

FM: Ja. Machtpositionen, und das zählt, sind aber meist weniger divers besetzt. «Andere» Personen, die dort mitspielen dürfen, werden oft als Ausnahme charakterisiert. Man lobt dann beispielsweise deine akzentfreie Sprache und nimmt dich als Individuum grosszügig in die Whiteness auf.

RW: Wobei das «Wir», welches vorgeben und

sagen könnte, wie man richtig spricht,

zunehmend in Frage gestellt wird.

FM: Das «Wir» mag ein Mythos sein. Aber dort, wo es um politische Macht und Entscheidungen geht, hat es trotzdem Gewicht. Dann stehen beispielsweise Geflüchtete oder Homosexuelle oder People of Colour dem «normalen» und damit normativen «Schweizer» gegenüber. Was oder wie die Schweiz genau ist, ist eine Frage. Die andere, mir wichtigere Frage ist, auf wen oder was die Schweiz ausgrenzend wirkt. Das hat viel mit Sprache zu tun. Unten auf einem Formular kann zum Beispiel stehen: «Unterschrift des Ausländers». Das sagt, denke ich sehr viel aus. Wer das «Wir» ist und wer die Anderen sind, kommt hier in aller Deutlichkeit und auch Plumpheit zum Ausdruck.

RW: Das leuchtet mir ein. Durch die Sprache

zeigt sich die dominante Whiteness der

Schweiz. Wie ist es mit der Blackness oder

Colouredness? Gibt es sie in einer Art und Form,

in der sie in deinem Verständnis politische

Wirkung entfalten kann?

FM: Die Erfahrung, in der Schweiz Schwarz beziehungsweise nicht weiss zu sein, ist etwas sehr Reales. Eine nichtweisse Gegenidentität ist deshalb möglich und auch notwendig.

RW: Kann oder soll das in der Schweiz gleich

funktionieren wie beispielsweise in den USA

oder Frankreich?

FM: Nein, denn People of Colour haben in diesen Ländern eine ganz andere Geschichte. Nichtsdestotrotz ist die Schweiz Teil der Kolonialgeschichte, also des Problems, von dem wir reden. Ihr Selbstverständnis als unbeteiligte Ausnahme hat, wie ich schon sagte, keine reale Grundlage. Ebenso muss ihr Selbstverständnis als nichtrassistisches Land befragt werden. Viele Leute, die als Nichtweisse Diskriminierung erfahren haben, werden jetzt, ausgelöst durch die Rassismusdebatte, und teils sehr spät in ihrem Leben, darauf aufmerksam. Gleichzeitig wird gesagt, dass es das Problem nicht gäbe. Wir sind also noch nicht in einem wirklichen Gespräch angekommen.

 

Fatima Moumouni ist Spoken Word-Poetin und Schreibende.

Mehr über ihre Auftritte und Projekte: fatimamoumouni.com.

Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Fatima Moumouni wurde von Ruedi Widmer am 30. Juli 2020 via Telefon geführt.

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