Raus aus der Bubble!

Raus aus der Bubble!

Interview mit Gülsha Adilji

1. Niederuzwil und der Kosovo

 

Damian Christinger: Liebe Gülsha, wie darf ich mir das Niederuzwil vorstellen, wo du aufgewachsen bist?

 

Gülsha Adilji: Als vorgelagerten Teil von Uzwil, der wiederum an Oberuzwil hängt. Als ein Dorf, in dem man zum Mittagessen nach Hause geht und in dem sich im Sommer alle in der Badi und im Winter alle auf der Eisbahn treffen. Die Kinder gehen zu Fuss in den Kindergarten oder in die Schule. Viele machen eine Polymechanikerlehre bei Bühler oder Benninger und werden dann dort arbeiten. Als Teenager hörst du im Ex Libris stundenlang CDs und einige wünschst du dir dann zu Weihnachten oder zum Geburtstag. In meinem Fall gehst du mit sechzehn weg, um in Zürich eine Lehre zu machen.

 

DC: Deine Eltern sind aber nicht in Niederuzwil aufgewachsen?

 

GA: Nein, meine Mutter kommt aus Pristina im Kosovo, wo sie in einer türkischstämmigen Familie aufwuchs. Mein Vater kommt aus einer kosovarischen Enklave in Serbien. Er hat bereits in den 1970er-Jahren als Saisonier in der Schweiz gearbeitet und pendelte hin und zurück. Als meine Eltern dann heirateten, kam meine Mutter 1984/85 in die Schweiz und sie gründeten in Niederuzwil eine Familie, in der dann meine beiden Schwestern und ich aufwuchsen. Meine Mutter putzte am Anfang, arbeitete dann in der Migros und führte schliesslich einen Kebabladen. Mein Vater arbeitete zuerst im Gartenbau, später auf dem Bau und montierte dann Treppen. Er war zudem in der Freizeit begeisterter Gärtner.

 

DC: Gibt es da vielleicht einen Zusammenhang mit dem Fakt, dass er drei Töchter hat und dementsprechend mit vier Frauen die Wohnung teilte? In der Siedlung, in der ich aufwuchs, hatte mein Nachbar vier Töchter und verbrachte auch sehr viel Zeit im Garten...

 

GA: Ha! Nun ja, die Tomatensetzlinge pflanzt du, schaust, dass sie genügend Sonne haben und wenn sie wachsen bindest du sie an. Mit Töchtern ist das alles wohl nicht so einfach. Ich kann mir schon vorstellen, dass wir manchmal etwas anstrengend waren. Andererseits ist mein Vater eher ländlich aufgewachsen, seine Familie war immer in der Landwirtschaft, hatte Land und Vieh.

 

DC: Mit welchen Sprachen sind deine Eltern aufgewachsen?

 

GA: Die Muttersprachen meiner Mutter sind Türkisch und Albanisch, unterrichtet wurde sie in der Schule auf Serbisch. Mein Vater wuchs mit Serbisch und Albanisch auf. Beide stammen aus grossen Familien. Das heisst, ich habe viele Cousins and Cousinen, die alle Albanisch und Serbisch sprechen. Wenn ich mich mit meiner Mutter unterhalte, dann in unserer «Geheimsprache»: einem Gemisch aus Schweizerdeutsch, Türkisch und Albanisch.

 

DC: Und in den Ferien seid ihr dann jeweils die Familien besuchen gegangen?

 

GA: Ja natürlich, das war immer toll. Erstens, weil man natürlich Ferien hatte – es ist heute sehr schwierig sich in die Euphorie hineinzuversetzen, die man als Kind fühlte, wenn Ferien anstanden. Und zweitens, weil dort immer ganz viele Kinder waren, mit denen wir spielen konnten. Wir waren zwar Gäste, aber trotzdem Teil der Familie, Teil von etwas Vertrautem.

 

DC: Und gehst du immer noch dahin in die Ferien?

 

GA: Ich war schon lange nicht mehr dort.

 

DC: Warum?

 

GA: Es ist zwar seltsam, aber es liegt vielleicht daran, dass Kosovarisch die Sprache meiner Kindheitserinnerung ist, ich sie aber nicht wirklich beherrsche. Nicht so, wie ich es gerne tun würde. Ich bin eigentlich ziemlich furchtlos, normalerweise ist meine Strategie Angriff, wenn ich Angst habe oder mir etwas peinlich ist. Aber mich nicht ausdrücken zu können, die Angst dafür eventuell belächelt zu werden, hält mich davon ab, in den Kosovo zu gehen und meine Familie zu besuchen.

 

2. Katzenvideos und Andreas Glarner

 

DC: Als ich mir die Videos deiner Moderationen aus deiner Zeit beim Jugendsender Joiz auf YouTube anschaute, fand ich es erstaunlich, wie viel Haltung und Überzeugung bei gewissen Themen zu finden waren. Hat dies der Sender einfach zugelassen oder war das sozusagen Teil des Programms?

 

GA: Die Redaktion wollte einfach, dass wir uns selber sind, es war uns wichtig, dass wir uns nicht verleugnen. Das heisst in meinem Fall halt Katzenvideos und Andreas Glarner, also Dinge, die mich belustigen und die mich aufregen, anzusprechen. Ich konnte und kann nicht meinen Mund halten, wenn ich etwas wichtig finde. Vielleicht eine Krankheit, aber sie definiert mich privat wie beruflich.

 

DC: Apropos Krankheit: In einer deiner Kolumnen in der Aargauer Zeitung sprichst du über Patriotismus als ein Gefühl, das dir völlig abstrakt und irrational erscheint. Du bezeichnest es sogar als einen Virus, welcher die Gehirne befällt.

 

GA: Ich wurde auf dem Pausenplatz sehr früh gefragt, woher ich komme und irgendwie schien die Antwort «aus Niederuzwil» auf dem Pausenplatz nie ausreichend. Das heisst, ich musste mich sehr früh mit dem Fakt auseinandersetzen, dass Zugehörigkeit eine Konstruktion ist, etwas Künstliches, das, je nach dem wo und mit wem man spricht, seine Form verändert. Wirklich problematisch wird es, wenn jemand diesen Virus bewusst kultiviert und in die Köpfe einpflanzt, so wie dies momentan überall auf der Welt passiert. Sei es in Ungarn, in Russland, den USA, in Deutschland oder auch in der Schweiz. Da muss man, finde ich, die Dinge beim Namen nennen und auch die Leute ansprechen, die nicht gleicher Meinung sind, also zum Beispiel im Schwingerhemd auftreten und darüber entscheiden wollen, was Schweizersein und Schweiz bedeutet. Das führt natürlich zu Konflikten, aber da ich das Deutsche und das Schweizerdeutsche genügend beherrsche, um mich darin wohl zu fühlen, macht mir das keine Angst. Wir sollten wieder miteinander sprechen, und manchmal hilft eine kleine Provokation, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Leute mit einer diametral anderen Meinung erreichst du eh nicht.

 

3. Raus aus der Bubble!

 

DC: Du bist in den sozialen Medien sehr präsent und erreichst tausende Follower. Gleichzeitig sprichst du das Problem der «Bubbles» in den sozialen Medien an, dass wir nur noch Inhalte von Gleichgesinnten wahrnehmen und die Ideen der Andersdenkenden nicht. Wie gehst du damit um?

 

GA: Es ist natürlich schon so, dass einer, der die Junge SVP toll findet, mich entfreundet oder entfolgt, wenn ich mich kritisch zu Andreas Glarner und seiner Idee einer Ausländerpolitik äussere. Da kann ich nicht viel ändern, ausser, dass ich vielleicht hin und wieder ein Katzenvideo poste und so gewissermassen den Kanal offen halte. Es wäre wohl schon viel erreicht, wenn man die Social-Media-Kanäle, in denen es ja sehr stark um Mode, Lifestyle und Konsum geht, insgesamt mehr auf Politisches ausrichten könnte. Vielleicht erzeugt unsere Gegenwart so viel Druck, dass dies automatisch gelingt, dass jede und jeder Stellung beziehen muss.

 

DC: Aber jede und jeder bleibt dennoch in der eigenen Bubble gefangen...

 

GA: Ja, momentan schon. Die würde nur platzen, wenn sich unser Erziehungssystem verändert. So wie ich das sehe, produzieren wir im Moment hauptsächlich unmündige Befehlsempfängerinnen und -empfänger. In der Schule wird einem nicht beigebracht, selbstständig zu denken, Dinge zu hinterfragen und kritisch zu sein. Zwar wird in den Medien überall angemahnt, dass wir Schülerinnen und Schülern beibringen sollen, «Fake News» zu erkennen. Dies gelingt aber nur, wenn wir unser Schulsystem grundsätzlich reformieren, ach was, revolutionieren! Es geht eben nicht, dass wir alles auf Leistung trimmen und zur absoluten Stromlinienförmigkeit optimieren und dann erwarten, dass die Menschen selbstständig denken lernen. So lange wir keine wirkliche Gleichberechtigung haben, so lange wir frühzeitig kuschen lernen, so lange werden die Menschen eben einfachen Rezepten folgen und sind somit empfänglich für Viren.

 

DC: Du bist ja auch Teil dieses Systems und trittst zum Beispiel in der Arena auf, wo du dann über die Reaktionen auf den Social-Media-Kanälen berichten darfst...

 

GA: Natürlich, ich bin ja auch keine Lehrerin, sondern arbeite in und mit den Medien. Hier kann ich Akzente setzen, Entwicklungen und letztendlich auch mich selber beobachten. Wenn ich für die Arena arbeite, muss ich natürlich auch jenseits meiner Bubble schauen, wie die Reaktionen sind; da lerne ich auch viel und muss vielleicht den einen oder anderen Standpunkt überdenken. Man soll sich als Medienmensch ja auch nicht zu ernst oder wichtig nehmen, sondern für das einstehen, an das man glaubt.

 

Gülsha Adilji war lange das Gesicht des Jugendsenders Joiz. Heute arbeitet sie als freie Journalistin und Kolumnistin. Bald kommt sie mit ihrem ersten Bühnenprogramm auf die Kleinkunstbühnen der Schweiz.

 

Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium des Master Kulturpublizistik der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Gülsha Adilji wurde von Damian Christinger am 20. Januar 2017 in Zürich geführt.

 

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